ZOiS Spotlight 38/2021

Osteuropas Gig-Ökonomie streikt

Von Miglė Bareikytė 27.10.2021
Ein von der Organisation "Kurier" koordinierter Streik von Beschäftigten des Kurierdienstes Delivery Club in Moskau. IMAGO / ITAR-TASS

Der Fall der Berliner Lieferplattform Gorillas hat aufgrund andauernder Streiks und Entlassungen von streikendenden Arbeiter*innen viel Aufmerksamkeit in den Medien erregt. Gorillas gehört neben anderen Lieferfirmen wie Wolt, Bolt, Lieferando oder Uber Eats zur boomenden Gig-Ökonomie, bei der Arbeitsaufträge durch digitale Plattformen algorithmisch organisiert und vermittelt werden. In einigen Fällen sind die Plattformarbeiter*innen angestellt, häufig werden sie jedoch als "Partner" dieser Unternehmen bezeichnet und sind selbständig oder freiberuflich tätig. Die Gig-Ökonomie ist Teil einer zunehmenden Flexibilisierung der Arbeit, die in den 1970er Jahren in Westeuropa begann und nach dem Zerfall der Sowjetunion in den östlichen Teil Europas überging. Die Beschäftigten von Gorillas hatten sich mit ihrer Arbeitsniederlegung für bessere Arbeitsbedingungen eingesetzt. Bei den Kündigungen der Streikenden berief sich das Unternehmen darauf, dass in Deutschland nur gewerkschaftlich organisierte Streiks zulässig seien.

Die (gewerkschaftliche) Organisierung in der Lieferbranche der Gig-Ökonomie ist ein fortlaufendes transnationales Unterfangen, das aufgrund verschiedener Arbeitsprobleme – gerechte Entlohnung oder langfristige soziale Sicherheit – zunehmend an Bedeutung gewinnt. Die Schlüsselthemen der Gig-Ökonomie, die Arbeitsprobleme oder die Methoden der (gewerkschaftlichen) Organisierung sind jedoch nicht überall gleich. Während diverse Medienkanäle weiterhin über die jüngsten Kämpfe von Lieferkurier*innen berichten, die – neben anderen weniger sichtbaren prekär Beschäftigten wie On-Demand-Reinigungskräften oder Sexarbeiter*innen – zu der vielleicht sichtbarsten Gruppe der Gig-Ökonomie in Westeuropa gehören, organisieren sich Beschäftigte auch im östlichen Teil Europas. Proteste und gewerkschaftliche Organisierungsversuche in Ländern wie Georgien, der Ukraine, Kasachstan, Litauen und Russland markieren eine neue Art von dynamischer und kommunikationsaffiner Mobilisierung der Arbeiter*innen im postsowjetischen Raum, einer Region, die für die Schwäche ihrer traditionellen Gewerkschaften bekannt ist.

Prekär Beschäftigte in Russland organisieren sich

Organisationssekretär Maxim aus der Gewerkschaft “Kurier” in Russland, den ich im Sommer 2021 interviewte, nannte drei Hauptakteure des Marktes für Lieferplattformen in Russland: Samokat, Yandex und Delivery Club. Die wichtigsten Lieferplattformen seien russische Unternehmen, Wolt, Deliveroo oder andere westeuropäische Unternehmen seien in Russland nicht vertreten. Maxim verweist aber auf den wachsenden Einfluss von Taxi-Plattformen aus China in Regionen wie dem Ural und Sibirien. Lieferungen werden in Russland nicht nur mit Fahrrädern oder Autos, sondern auch zu Fuß durchgeführt. Viele der Beschäftigten sind männliche Studenten, Menschen, die während der Corona-Pandemie ihre Arbeit verloren haben oder Arbeitsmigrant*innen aus ehemaligen Sowjetrepubliken.

Die Organisierung prekärer Gig-Ökonomie-Beschäftigter steht in Russland vor speziellen Herausforderungen. Maxim erklärt, dass die Gewerkschaft “Kurier”, die im Frühjahr 2020 nach Entlassungen und Streiks von Lieferkurier*innen entstanden ist, nicht als offizielle Organisation registriert ist, "um nicht vom Staat verfolgt zu werden oder als sogenannter ‘ausländischer Agent’ zu gelten". Eine solche Einstufung nach dem „Agentengesetz“ würde ihre Arbeit enorm erschweren. Derzeit besteht das Hauptziel von „Kurier“ darin, die zersplitterten Kurierdienste zusammenzubringen.

Eines der drastischsten Probleme, das die russische Gig-Ökonomie von den EU-Ländern unterscheidet, sind die Geldstrafen für Lieferarbeit. Maxim zufolge werden Geldstrafen gegen Kurier*innen verhängt, "wenn sie zu spät zur Arbeit kommen, unordentlich oder unorganisiert gekleidet sind, dem Management widersprechen oder ihren Standort falsch angeben". Ein weiteres Problem ist die Nutzung von Apps für die Arbeit: Nicht überall gibt es Netzabdeckung und die Apps "hinken hinterher [oder] sind fehlerhaft". Auch die elektronische Verwaltung führe zu Fehlern bei der Arbeit: "In vielen Fällen werden die Lieferzeiten und Preise falsch berechnet." Bei akuten Problemen oder Fehlern sprechen die Kurier*innen mit Mitarbeitenden der Lieferplattformen, die "nicht über die vollständigen Informationen und Befugnisse verfügen, um entsprechend zu handeln", oder sie kommunizieren mit einem Bot. Der Mangel an sozialer Sicherheit, menschlichem Kontakt und konkreter Unterstützung, ungeregelte Entlassungen und Geldstrafen schaffen den Nährboden für die Organisation der Arbeitnehmer*innen.

Neue Formen des Aktivismus sind notwendig

Ungeachtet der drängenden Probleme ist die Organisierung prekär Beschäftigter aufgrund der fragmentierten Natur der Gig-Arbeit und – in Russland – zusätzlich aufgrund der Größe des Landes schwierig. Maxim erklärt, dass "das große Problem mit unseren Mitgliedern [ist], dass sie alle verstreut sind. Es ist nicht einfach, mit ihnen zu kommunizieren [...]; hier sind alle Arbeiter dieser Plattformökonomie sehr atomisiert, und wir mussten eine andere Kommunikationsstrategie finden".

“Kurier“ legt einen Fokus auf die Kommunikation zwischen seinen Mitgliedern über soziale Medienkanäle wie Vkontakte, Facebook, Telegram, Instagram, YouTube und andere. Laut Maxim dienen die Telegram-Gruppenchats der Bottom-up-Organisation unter den Kurier*innen je nach Standort, Gebiet und Nationalität innerhalb Russlands. Über den Telegram-Hauptchat der Gewerkschaft werden Beiträge und Diskussionen über die aktuellsten Probleme, Tipps für sichere Arbeitsbedingungen, Links zu relevanten Artikeln und Videos zur Unterstützung von Kurier*innen mit akuten Problemen oder Informationen zur Organisationsarbeit von “Kurier” verbreitet. Ein Ziel der Gewerkschaft ist es, diese verteilte Kommunikation zu verwalten. Ein anderes Ziel ist es, die Sichtbarkeit der Kurier*innen zu erhöhen. Die Sichtbarkeit mit Hilfe von Blogger*innen und Aktivist*innen sowie die Online-Kommunikation tragen laut Maxim dazu bei, einige der Probleme des unregulierten Marktes zu lösen: "Wir hatten auch Fälle in Sotschi und Nowosibirsk, in denen Arbeiter*innen entlassen wurden. Nach der Medienkampagne wurden sie wieder eingestellt."

Ungeachtet des ständig schwindenden Vertrauens der Öffentlichkeit in das Potenzial des Internets, den demokratischen Meinungsaustausch zu stärken, liegt der Schwerpunkt beim Aufbau einer Bottom-up-Solidarität in den prekären Arbeitsbranchen in Russland auf Online-Kommunikationsmitteln, die mit Offline-Aktionen wie Streiks kombiniert werden. Dies zeigt die Spezialisierung der kritischen Arbeiterbewegungen in Russland, die sich auf die Gig-Ökonomie konzentrieren. Sie sind auch ein Beispiel für die aktivistische Organisierung von Beschäftigten im östlichen Teil Europas, der seine eigenen, historisch begründeten Komplexitäten aufweist und wo Beschäftigte aufgrund fehlender Arbeitsrechte besonders benachteiligt sind, wie am Beispiel der Geldstrafen zu sehen ist. Schließlich zeigt sich daran auch die anhaltende Bedeutung von kommunikativen Aktionen für kritische Bewegungen. Laut Maxim hat „ein Streik nicht stattgefunden, wenn er nicht in den sozialen Medien oder im Internet zu finden ist". In Russland sind alternative Formen der gewerkschaftlichen Organisierung, wie sie in der Gig-Ökonomie entstanden sind, zu einem wichtigen Mittel im Kampf für bessere Arbeitsbedingungen geworden.


Miglė Bareikytė ist Medienwissenschaftlerin und Postdoktorandin an der Universität Siegen. Sie erforscht derzeit empirisch Konflikte um Künstliche Intelligenz und Plattformökonomien in Europa und interessiert sich allgemein für Medien(geo)politik, Medienkritik und historisch-sensible ethnographische Forschungsansätze.