ZOiS Spotlight 29/2021

Orthodoxe Feierlichkeiten in der Ukraine: Konkurrenzkampf der Kirchen

Von Andriy Fert 28.07.2021
Feierlichkeiten zur Taufe der Rus‘ in Kiew 2019. IMAGO / ZUMA Wire

Im Juli 2008 stand die Ukraine einige heiße Sommertage lang im Mittelpunkt der orthodoxen Welt. Führende Vertreter*innen von Staat und Kirche kamen nach Kiew, um den 1020. Jahrestag der Christianisierung der Kiewer Rus zu feiern. Das etwas ungewöhnliche Jubiläum sollte zeigen, wie sich das religiöse Leben seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion gewandelt hat. Sowohl der ukrainische Präsident als auch viele Kirchenführer hatten damals die Hoffnung, dass die Feierlichkeiten dazu beitragen könnten, rivalisierende orthodoxe Gemeinden im Land zu einer ukrainischen Nationalkirche zu vereinigen. Dazu ist es jedoch nie gekommen. Stattdessen haben die seitdem jedes Jahr am 27. und 28. Juli stattfindenden Feierlichkeiten zum Jahrestag der Taufe der Rus – der Ankunft des Christentums auf dem Gebiet der heutigen Ukraine im Jahr 988 – immer wieder die religiöse Spaltung des Landes vor Augen geführt.

In der Ukraine gibt es heute zwei große orthodoxe Kirchen, die unabhängig voneinander agieren. Theologisch unterscheiden sie sich nicht. Sie sprechen jedoch unterschiedliche nationale und kulturelle Gefühle an. Die Ukrainische Orthodoxe Kirche (Ukrainian Orthodox Church, UOC), die über die größte Anzahl an Mitgliedsgemeinden verfügt, ist nach wie vor der Autorität des Moskauer Patriarchats unterstellt. Vor dem Hintergrund des aktuellen Konflikts mit Russland sind viele Menschen deshalb alarmiert und werfen der Kirche prorussische Propaganda vor. Vor fast zwei Jahren wurde die Orthodoxe Kirche der Ukraine (Orthodox Church of Ukraine, OCU) gegründet, die über weniger Gemeinden, dafür aber mehr Anhänger*innen verfügt. Sie wurde jedoch bisher nur von wenigen anderen Kirchen weltweit anerkannt.

Einheit und angebliche Verfolgungen

Die Taufe der Rus, so sagen Sprecher der UOC, sei einer der Lieblingsfeiertage ihrer Gemeindemitglieder. Die UOC machte sich daher 2008 für groß angelegte Feierlichkeiten zum 1020. Jahrestag der Taufe stark machte. Das damalige Oberhaupt der Kirche, Metropolit Wolodymyr, sah darin einen ersten Schritt, um von Moskau unabhängig zu werden. Allerdings starb er 2014, und sein Nachfolger, Onufrij, schien nie sonderlich an einer unabhängigen Kirche interessiert.  

Im Gegenteil, unter Onufrij hat die Kirche sich Russland angenähert, weshalb sie in der Ukraine zunehmend an Einfluss verliert. Seit dem Beginn des Konflikts zwischen den beiden Ländern stellten sich außerdem nur prorussische Politiker*innen und Medien hinter sie. Onufrij und Vertreter der UOC nutzten die Taufe der Rus, um den Krieg in der Ostukraine als Brudermord zu bezeichnen, und schlossen sich damit den Aussagen russischer Funktionäre an.

Allerdings wurde in den letzten Jahren von der UOC vor allem das Thema einer angeblichen Verfolgung forciert. Im Jahr 2018 begann der damalige ukrainische Präsident Petro Poroschenko eine Kampagne für den Tomos, das Dekret über die Unabhängigkeit der OCU von der Russisch-Orthodoxen Kirche in Moskau. In diesem Rahmen erließ das ukrainische Parlament zwei Gesetze: Das erste verpflichtete die UOC, einen Hinweis auf Russland in ihren Namen aufzunehmen, während das zweite die Möglichkeiten von Gemeinden regulierte, ihre Kirchenzugehörigkeit zu wechseln. Daraufhin traten mehr als 500 Gemeinden aus der UOC aus. Onufrij bezeichnete diese Schritte als religiöse Verfolgung.

Als Antwort darauf nutzte die UOC die Taufe der Rus, um ihre Macht zu demonstrieren, indem sie tausende Menschen auf die Straße brachte. Außerdem sprach die Kirche mehrere Personen heilig – vor allem Menschen, die von staatlichen Organen exekutiert wurden –, um Vorbilder des Widerstands für die Gläubigen zu schaffen. „Wir sind die Kirche der Märtyrer“, behauptete Onufrij wiederholt. „Diese Heiligen zu verehren, wird unsere Gläubigen dazu ermutigen, weiterhin so fest in ihrem Glauben an die Orthodoxie zu sein wie in den vergangenen Jahren“, fügte ein Sprecher der Kirche hinzu.

Offenheit der OCU

Währenddessen wird über die Festlichkeiten der OCU im ganzen Land berichtet. Im Gegensatz zu den Veranstaltungen der UOC lassen sich bei ihnen Feiernde beobachten, die die ukrainische Flagge schwenken, und „Ruhm der Ukraine!“ rufen. Prominente Personen des öffentlichen Lebens und viele proeuropäische Politiker*innen nehmen an den Kreuzprozessionen teil.

Aufgrund der Covid-19-Pandemie konnte die OCU bisher jedoch nur eine einzige Veranstaltung 2019 offline abhalten. Sie fand vor dem Hintergrund einer tiefen Krise der neuen Kirche statt. Poroschenko, ein aktiver Unterstützer der OCU, verlor die Präsidentschaftswahl 2019 gegen den religiös gleichgültigen Wolodymyr Selenskyj. Frühere UOC-Gemeinden hörten auf, sich der OCU anzuschließen und, als wäre dies nicht genug, warf einer der Gründerväter der Kirche, Patriarch Filaret, der OCU und Poroschenko vor, sich gegen ihn verschworen zu haben. Ganz zu schweigen von dem Schaden, der dadurch angerichtet wurde, dass Poroschenko die Kirche für seinen Wahlkampf benutzt hatte.

Der Vorsitzende der OCU, Metropolit Epiphanius, sah deshalb in der Taufe der Rus eine Chance, seine Kirche als eine für alle offene Institution zu präsentieren, die nationale Einheit stiften, und die nationalen Traditionen der Ukraine beschützen könne. Er warb für die Idee einer orthodoxen Einheit mit dem „Heiligen Stuhl von Kiew“ als Zentrum, und mahnte, „unsere Vergangenheit zu kennen“, um die Zukunft gestalten zu können.

Wettbewerb ohne Ende

Seit 2008 ist die Taufe der Rus stets ein Wettbewerb gewesen – zwischen verschiedenen Geschichtsbildern und zwischen den beiden Kirchen, die bei ihren Feierlichkeiten so viele Teilnehmende wie möglich zusammenbringen wollten. Die Feiern 2018 und 2019 waren typische Beispiele dieses Machtspiels. Sie waren von gegenseitigen Vorwürfen des Nationalismus oder des mangelnden Patriotismus begleitet, die von rivalisierenden Medien und Politiker*innen aufgegriffen wurden. Für einen kurzen Moment schien es 2020 so, als wäre der Wettkampf vorüber: Die Kirchen sagten ihre Prozessionen ab und hielten Online-Gebete gegen die verderbliche Covid-19-Pandemie ab. Die OCU entschied in diesem Jahr ebenfalls, auf eine Prozession zu verzichten, und rief die Gläubigen dazu auf, in ihren lokalen Gemeinden zu feiern.

Dann veröffentlichte die UOC jedoch eine Ankündigung, in Kiew traditionelle Feierlichkeiten organisieren zu wollen. Obwohl die Ukraine seit 2019 einen neuen Präsidenten und ein neues Parlament besitzt, nutzt die UOC weiterhin das Narrativ einer religiösen Verfolgung, um ihre Anhänger*innen zu mobilisieren. Sie weigert sich, den Übertritt von 500 Gemeinden zur OCU anzuerkennen, behauptet, dass sie von „Räubern übernommen worden“ seien, und verlangt die Rücknahme des Gesetzes, das den Gemeinden erlaubt, ihre Kirchenzugehörigkeit zu wechseln. Die UOC erstattet Anzeigen und organisiert gemeinsame Gebete vor dem Parlament und dem Büro des Präsidenten. Die Taufe der Rus wäre für die Kirche eine perfekte Gelegenheit, erneut ihre Macht unter Beweis zu stellen und die Regierung unter Druck zu setzen.

Im Jahr 2008 signalisierten führende Vertreter der UOC ihre Bereitschaft, mit den anderen beiden Orthodoxen Kirchen der Ukraine, die sich später zur Orthodoxen Kirche der Ukraine zusammenschlossen, in einen Dialog zu treten. Dreizehn Jahre später – vor dem Hintergrund des Kriegs in der Ostukraine und einer neuen, von der orthodoxen Welt anerkannten ukrainische Kirche – scheint niemand mehr daran interessiert. Die OCU repräsentiert sich als offene Kirche, allerdings steht die Gesellschaft der UOC im Allgemeinen sehr feindselig gegenüber. Gleichzeitig hat die UOC zunehmend den Bezug zur Mehrheitsgesellschaft verloren, und driftet mit ihren Vorwürfen des Nationalismus und der religiösen Verfolgung, die sie ihren Gegner*innen macht, immer stärker ins prorussische Lager ab. Auch 2021 werden die Feierlichkeiten zum Jahrestag der Taufe der Rus gespalten sein. Der Wettbewerb zwischen den beiden ukrainischen Kirchen wird so bald wohl kein Ende finden.


Andriy Fert ist Historiker und promoviert momentan an der Nationalen Universität „Kiew-Mohyla-Akademie“ in der Ukraine.