ZOiS Spotlight 21/2017

Ist demokratische Rhetorik in Russland nur Dekoration?

Von Anna Litvinenko 06.09.2017
Journalist*innen bei der jährlichen Pressekonferenz Wladimir Putins. Pressestelle des russischen Präsidenten

Russische Journalist*innen aus staatlichen Medien zu einem Interview zu bewegen ist schwierig. Wenn man sie darum bittet, verweisen sie für gewöhnlich auf die Unternehmenskultur. Ohne eine spezielle Genehmigung seien sie nicht berechtigt, Interviews zu geben, heißt es dann. Genauso wie bei CNN übrigens, fügen sie hinzu. Den Vergleich mit westlichen Medien führen Journalist*innen staatlicher Medien in Gesprächen häufig an, und sie betonen, dass es Ihnen nicht anders gehe als ihren Kolleg*innen im Westen. Sie sprechen über Geschäftsmodelle und Zielgruppenorientierung, nicht aber über Zensur oder politische Voreingenommenheit. Direkt danach gefragt, antworten sie: „Eine gewisse Befangenheit gibt es doch in allen Medien. CNN und Fox News haben auch ihre Eigentümer und unterliegen deshalb Einschränkungen.“

Als mein Kollege Florian Toepfl und ich begannen, für unser Forschungsprojekt "Zur Medialisierung (semi-)autoritärer Herrschaft: Die Macht des Internets im post-sowjetischen Raum" an der Freien Universität Berlin den Diskurs russischer Journalist*innen zu untersuchen, erwarteten wir, zwischen den Redeweisen russischer und westlicher Journalist*innen Unterschiede zu finden. Was uns dann besonders ins Auge sprang, waren jedoch nicht die Unterschiede, sondern die Gemeinsamkeiten. Wenn man nicht wüsste, dass man die Aussagen eines Journalisten einer staatlichen Nachrichtenagentur vor sich hat, könnte man sie leicht mit denen einer Reuters-Redakteurin verwechseln.

Als Wissenschaftler*innen berücksichtigen wir, dass Journalist*innen mit uns anders sprechen, als sie es untereinander tun würden. Aber auch der Diskurs gegenüber der Außenwelt spielt eine Rolle. Das Muster lässt sich nicht nur in journalistischen Kreisen, sondern auch in der politischen Kommunikation beobachten: Demokratische Rhetorik und autoritäre Praktiken gehen in Russland nicht selten Hand in Hand. Toepfl hat dieses Paradox kürzlich in einem Artikel beschrieben, in dem er sich dafür ausspricht, die Beziehungen von Medien und Politik mit einem diskursbasierten Ansatz zu untersuchen. Seine Forschungen zeigen, dass etwa in den politischen Nachrichten des Ersten Kanals eine demokratische Rhetorik vorherrschend ist. Das russische Fernsehpublikum sieht also regelmäßig Beiträge über den Menschenrechtsrat des russischen Präsidenten beim Treffen mit Wladimir Putin oder über Amtspersonen, die sich mit Onlinepetitionen befassen. Durch die Linse der Fernsehkameras gesehen wirkt die Politik des Landes demokratisch und transparent.

Autoritäre Praktiken mit demokratischen Worten zu dekorieren, wird oft als ein Trick des Regimes wahrgenommen. Politikwissenschaftler*innen beschreiben diese Taktik als typische Eigenschaft eines modernen hybriden Regimes. Doch handelt es sich wirklich um ein Werkzeug des Regimes oder nur um die Abwesenheit eines anderen kohärenten Narrativs? Spricht man mit Journalist*innen, besonders aus der jüngeren Generation, so scheinen sie ausschließlich die Sprache der Demokratie zu beherrschen. Diese Rhetorik ist ein Erbe aus der Zeit der demokratischen Transformation, die die post-sowjetischen Gesellschaften in den 1990er Jahren durchlaufen haben. Die Eliten haben sich die neue Sprache angeeignet und bis jetzt gibt es keinen Ersatz dafür. So bedienen sie sich heute, trotz autoritärer Tendenzen, noch immer einer demokratischen Rhetorik und Journalist*innen, die in den 1990er und frühen 2000er Jahren sozialisiert wurden, übernehmen viele Formulierungen aus angelsächsischen Journalismus-Lehrbüchern.

Es mag so scheinen, als ob es sich dabei nur um eine verwässerte Rhetorik ohne jede Bedeutung handelt. Doch diese sogenannte dekorative Rhetorik hat dennoch einige Kraft. So war es zum Teil auch die Diskrepanz zwischen Worten und Taten, die die jüngsten Proteste der russischen Schüler*innen ausgelöst hat. Aus ihren Lehrbüchern lernte diese Generation, dass Russland eine Demokratie sei, die Menschenrechte und Meinungsfreiheit respektiert. Sie haben dieser Rhetorik ihr ganzes Leben lang zugehört und fordern nun, dass diese Konzepte im Land funktionieren, und sie haben deshalb auch keine Angst sich zu Wort zu melden.

Diese jungen Menschen wenden sich zunehmend von den staatlichen Medien ab, die die Meinungsfreiheit lediglich imitieren, und schaffen sich stattdessen eigene Räume für die freie Rede – auf YouTube oder in Clubs, wo Rap-Battles stattfinden, wie beispielsweise der zwischen den Hip-Hop-Stars Oxxxymiron and Gnoyny. Sie schaffen sich außerdem eine eigene Sprache, die ihrer Realität entspricht, aber den älteren Generationen und den staatlichen Medien unverständlich erscheint. Letztere haben kürzlich erfolglos versucht, die Fans der Rapper zu erreichen. Stattdessen handelten sie sich bezeichnenderweise Warnungen und Geldstrafen von Roskomnadzor, der russischen Behörde für Medienaufsicht ein, weil sie YouTube-Videos verbreitet haben, die Schimpfworte enthielten.


Anna Litvinenko ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Emmy-Noether-Nachwuchsgruppe "Zur Medialisierung (semi-)autoritärer Herrschaft: Die Macht des Internets im post-sowjetischen Raum" an der Freien Universität Berlin.