ZOiS Spotlight 12/2021

Drei Paradoxa der bulgarischen Parlamentswahlen

Von Daniel Smilov 31.03.2021
Das Parlamentsgebäude in Sofia, Bulgarien. IMAGO / Ray van Zeschau

Am 4. April wird in Bulgarien ein neues Parlament gewählt. Abgesehen von einer kurzen Phase in den Jahren 2013 und 2014 wurden sämtliche Regierungen des Landes seit 2009 von der GERB-Partei geführt. GERB ist eine Mitte-rechts-Partei mit einem starken populistischen Einschlag. Ihr Vorsitzender ist der bulgarische Premierminister Bojko Borissow, ein Politiker im Stil des früheren italienischen Premierministers Silvio Berlusconi, der mediale Aufmerksamkeit und fragwürdige politische Geschäfte liebt. Gegenüber der Europäischen Union (EU) tritt er als überzeugter Europäer, verlässlicher Verbündeter und sogar Freund der deutschen Kanzlerin Angela Merkel auf. Sein Ruf im eigenen Land ist vielschichtiger und insbesondere seit dem letzten Jahr stark angeschlagen. 

Korruption und Unruhen

Borissow war 2020 in eine Reihe von Korruptionsskandalen verwickelt, von denen bisher keiner abschließend und glaubhaft geklärt werden konnte. Der schwerste Vorwurf lautet, dass er und der bulgarische Finanzminister von einem Glücksspielanbieter Bestechungsgelder in Millionenhöhe erhalten, und diesem im Gegenzug Steuererleichterungen im Wert von 350 Millionen Euro verschafft hätten. In einem weiteren Skandal drangen Tonaufnahmen von Borissow an die Öffentlichkeit, die einen von ihm begangenen Machtmissbrauch nahelegen. Zudem sorgte die Veröffentlichung einer Reihe von geheim aufgenommen Fotos für Aufsehen. Sie zeigen den Nachttisch des Premierministers, auf dem eine Schusswaffe sowie Bargeld und Gold im Wert von einer Million Euro liegen.

Es gab also mehr als genug Gründe für die riesige Welle öffentlicher Proteste, die Bulgarien im Sommer und Herbst 2020 erlebte. Dennoch hat Borissow es geschafft, sich weiter an der Macht zu halten. Trotz all der Skandale und Proteste sowie einer harschen Resolution des Europaparlaments, die sich gegen die grassierende Korruption und fehlende Rechtsstaatlichkeit in Bulgarien richtete, könnte die GERB-Partei aus der kommenden Wahl erneut als größte Fraktion des neugewählten Parlaments hervorgehen, wie aktuelle Umfragen zeigen.   

Womöglich wird das neue bulgarische Parlament aus bis zu sieben unterschiedlichen Fraktionen bestehen. Die Stimmen der Opposition werden sich wahrscheinlich auf die Bulgarische Sozialistische Partei (BSP), die Bewegung für Rechte und Freiheiten (DPS), die die türkische Minderheit vertritt, die liberale proeuropäische Partei Demokratisches Bulgarien (DB) und zwei neugegründete Parteien verteilen, die aus den Protesten gegen Borissow hervorgingen und unter den Namen „Es gibt so ein Volk“ (ITN) und „Steh auf! Verbrecher raus!“ antreten. Die nationalistische Partei Vereinigte Patrioten (OP), die Teil der aktuellen Regierungskoalition ist, könnten die Vierprozenthürde für den Einzug ins Parlament verpassen. Sie sollte jedoch im Moment noch nicht abgeschrieben werden.

Insgesamt ist also von einer starken Zersplitterung des zukünftigen Parlaments auszugehen, weshalb Vorhersagen über mögliche Regierungsbildungen zum jetzigen Zeitpunkt riskant sind. Die Unsicherheit über den möglichen Ausgang der Wahl wird dadurch verstärkt, dass die Abstimmung auf dem Höhepunkt der dritten Covid-19-Welle stattfinden wird: Bulgarien belegt bei der Ausbreitung des Virus einen der Spitzenplätze und weist zudem die zweithöchste Todesrate in Europa auf. Wie sich dies auf die Wahlergebnisse auswirken wird, ist nicht vorhersagbar. Nach aktuellen Information gibt es in der politischen Situation Bulgariens allerdings drei Paradoxa.

Paradox 1: Anhaltende Unterstützung für GERB

Im Sommer 2020 unterstützten 60 bis 70 Prozent der Bulgar*innen die Proteste und forderten den Rücktritt Borissows und des bulgarischen Generalstaatsanwalts Iwan Geschew. Trotzdem kann die GERB damit rechnen, bei der kommenden Wahl erneut die stärkste politische Kraft im Land zu werden. Wie ist diese paradoxe Entwicklung zu erklären?

Ein Grund, der dazu führt, dass die GERB ihren Vorsprung wahrscheinlich halten kann, ist die gespaltene Opposition. Die Unzufriedenheit mit der Regierung kommt verschiedenen Parteien zugute, die jedoch keine verbündete Front darstellen. Borissow kann sich diese Uneinigkeit der Opposition zunutze machen.

Ein zweiter, nicht weniger bedeutender Grund liegt im Versagen der wichtigsten Oppositionspartei BSP, sich zu einer wahrhaft europäischen Linkspartei zu entwickeln. Sie ist nach wie vor eine typisch exkommunistische Partei mit einer stark prorussischen, einwanderungsfeindlichen und sogar homophoben Agenda. So lehnt sie es zum Beispiel vehement ab, die Istanbul-Konvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt zu unterzeichnen, die in ganz Europa von Seiten homophober Gruppen unter Beschuss geraten ist. Damit schreckt die BSP junge Leute und dynamischere, unternehmerisch orientierte Teile der Gesellschaft ab. Ihre Basis bleibt deshalb auf ländliche Gegenden und alte Menschen beschränkt.

Paradox 2: Medien, die keine Fragen stellen

Die jüngsten politischen Skandale in Bulgarien wurden weder ernsthaft untersucht noch konnten die Beteiligten ihr Verhalten glaubhaft erklären. In den Medien des Landes, insbesondere den großen Fernsehsendern, werden jedoch mittlerweile so gut wie keine kritischen Fragen mehr dazu gestellt. Warum ist das so? Auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen landete Bulgarien 2020 lediglich auf Platz 111 von insgesamt 180 Ländern weltweit. Das mag erklären, warum die Medien zu den Skandalen weitestgehend schweigen.

Paradox 3: Schwierige Koalitionsbildung

Ein Großteil der denkbaren Koalitionen wird wahrscheinlich nach der Wahl am 4. April faktisch nicht möglich sein. Trotzdem ist davon auszugehen, dass eine Regierung zustande kommen wird. Borissow besitzt theoretisch die Chance, an der Macht zu bleiben, falls GERB, OP und DPS gemeinsam eine Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen werden. Das ist momentan nicht sehr wahrscheinlich. Außerdem ist diese Koalition nur theoretisch eine Option, praktisch ist sie im Grunde unmöglich. Zum einen ist es unwahrscheinlich, dass DPS und OP in eine gemeinsame Koalition eintreten werden, zum anderen kann die GERB es sich nicht leisten, formale Verbindungen mit der DPS einzugehen. Für weite Teile der Öffentlichkeit wäre dies nur eine weitere Bestätigung des Verdachts, dass beide Parteien schon seit langem fragwürdige und korrupte Beziehungen zueinander unterhalten.

Angesichts der schwierigen Lage Borissows ist es am wahrscheinlichsten, dass die Opposition versuchen wird, eine Regierung zu bilden. Aber auch das wird nicht einfach, da die proeuropäische DB wahrscheinlich nicht dazu bereit sein wird, eine Koalition mit der exkommunistischen BSP zu bilden. Auch die ITN-Partei hat bereits angekündigt, nicht mit der BSP koalieren zu wollen.

Unter diesen Umständen wird wahrscheinlich eine technokratische Regierung aus den Wahlen hervorgehen, die nicht auf einer klassischen Koalition beruht. Ihre Aufgabe wird es sein, den europäischen Grünen Deal, den Aufbauplan der EU für die Zeit nach der Covid-19-Pandemie und nachhaltige Justizreformen durchzuführen. Die Opposition besitzt im Moment etwas bessere Chancen, nach dem 4. April eine solche Regierung zu stellen. Borissows lange und kontroverse Amtszeit könnte damit an ein Ende kommen.


Daniel Smilov ist außerordentlicher Professor für Politikwissenschaften an der University of Sofia und Programmdirektor beim Centre for Liberal Strategies in Sofia.