ZOiS Spotlight 10/2021

Der öffentliche Diskurs im Fall Nawalny in Russland und dem Westen

Von Mario Baumann 17.03.2021
Ein Graffiti von Alexej Nawalny des Streetartists Harry Greb in Rom, Italien. IMAGO / ZUMA Wire

Im Zuge der Auseinandersetzungen um den Giftanschlag auf den russischen Oppositionellen Alexej Nawalny wies die russische Regierung jegliche Verantwortung für die Tat zurück. Die aggressive Rhetorik, mit der sie auf die westlichen Vorwürfe reagierte, macht dabei zu einem gewissen Grad deutlich, dass Russland und der Westen trotz aller Konflikte weiterhin eine gemeinsame Sprache sprechen. Zunächst könnten die Ereignisse als ein Beleg der These erscheinen, dass mittlerweile keine Grundlage der Verständigung zwischen den beiden Seiten mehr existieren würde. Sie zeigen jedoch genau das Gegenteil: dass ihre normativen Grundannahmen, was politisch gesagt oder getan werden darf, gar nicht so weit auseinanderliegen.

Offensichtlich ist, dass die Notwendigkeit, gegenüber der Öffentlichkeit eine unschuldige Fassade zu wahren, dem Kreml rhetorische Kunststücke abverlangt. Ob er die Menschen erfolgreich von seiner Version der Ereignisse überzeugen kann, wird für die weitere politische Entwicklung innerhalb Russlands und für die Beziehungen des Landes zur Europäischen Union (EU) entscheidend sein.

Abweichende Narrative

Von Anfang an widersprachen sich im Fall Nawalny die westlichen und russischen Darstellungen der Ereignisse. Nachdem ein deutsches Labor bestätigt hatte, dass der Anschlag mit einem Nervengift aus der sogenannten Nowitschok-Gruppe verübt wurde, gab die deutsche Kanzlerin Angela Merkel am 2. September eine erste Stellungnahme zu den Ereignissen ab. Darin sprach sie von einem versuchten Mord, der begangen worden sei, um einen der führenden Oppositionspolitiker Russlands zum Schweigen zu bringen. Merkel erklärte, dass der Laborbefund schwerwiegende Fragen zur Rolle der russischen Regierung aufwerfe, und verlangte vom Kreml Antworten. Auch die EU und andere westliche Regierungen schlossen sich später dieser Aufforderung an. Sie alle sahen deutliche Beweise vorliegen, dass Russland hinter dem Giftanschlag stecke. Auf der Grundlage dieser Einschätzung wurde im Oktober eine erste Welle von Sanktionen erlassen, die sich gegen verschiedene russische Einzelpersonen und eine staatliche Forschungseinrichtung richtete.  

Der russische Präsident Wladimir Putin äußerte sich erstmals Ende Oktober öffentlich zu den Vorwürfen – zwei Monate, nachdem Nawalny nach Berlin ausgeflogen worden war. Er zog die Schlussfolgerungen der westlichen Regierungen und Labore in Zweifel und warf dem Westen fehlende Kooperationsbereitschaft vor. Die Regierung in Moskau behauptete außerdem mehrfach, dass Deutschland aktiv Informationen zurückhalte, und damit die russischen Behörden daran hindere, Ermittlungen aufzunehmen. Der russische Außenminister Sergej Lawrow äußerte darüber hinaus in einer Pressekonferenz die Vermutung, dass es sich beim Fall Nawalny um eine Inszenierung des Westens handele.

Dieses Narrativ schließt an den Vorwurf der Doppelmoral an, den der Kreml immer wieder gegenüber westlichen Ländern erhebt. Demnach sei der Westen ein skrupelloser Aggressor, dem es nur darum ginge, die eigene internationale Dominanz aufrechtzuerhalten, während Russland zum Opfer einer massiven Desinformationskampagne und antirussischen Hysterie werde. Indem sie sich selbst zum Opfer stilisiert, verschleiert die russische Regierung ihren eigenen Anteil am Konflikt mit dem Westen. Darüber hinaus stellt sie die Glaubwürdigkeit des Anschlags infrage, und weist damit jegliche Form eigener Verantwortung zurück. Der Kreml unterstellt Nawalny wechselweise Paranoia, oder dass er im Auftrag westlicher Geheimdienste handele. Damit sollen Zweifel an seiner Zurechnungsfähigkeit und Integrität gesät werden. Die russische Regierung weist außerdem die Annahme zurück, dass sie über ein Motiv für den Anschlag verfüge. Nawalny sei den Aufwand schlichtweg „nicht wert“.

Gemeinsame Grundannahmen

Auch wenn es zunächst nicht so erscheinen mag, offenbart die Rhetorik des Kremls doch, dass den öffentlichen Diskursen im Westen und in Russland ein gemeinsames Verständnis zugrunde liegt, welche Aussagen oder Handlungen politisch legitimierbar sind und welche nicht. Die russische Regierung weiß, dass sie in der Öffentlichkeit ihre Unschuld demonstrieren muss, weshalb sie versucht, die Vorwürfe ins Lächerliche zu ziehen und sie als Teil einer antirussischen Verschwörung darzustellen.

Die unterschiedlichen Narrative Russlands und des Westens im Fall Nawalny widersprechen sich also weniger in ihren normativen Grundannahmen – keines von beiden stellt Giftanschläge gegen einflussreiche Oppositionelle als ein legitimes Mittel der politischen Auseinandersetzung dar –, als vielmehr in ihren Darstellungen des tatsächlichen Geschehens und den Schlussfolgerungen, die sie daraus ziehen. Würde der Kreml es nicht einmal für nötig erachten, seine Beteiligung an dem Anschlag abzustreiten, oder ihn gar offen rechtfertigen, wäre die Vorgänge noch einmal deutlich besorgniserregender. Solange die russische Führung der Meinung ist, sich gegen die Vorwürfe verteidigen und die eigene Unschuld behaupten zu müssen, besteht immerhin noch ein Grundkonsens darüber, welche Maßnahmen öffentlich legitimiert werden können und welche nicht. Das kann optimistisch stimmen, ermöglicht es doch, alternative Erzählungen durch Tatsachen zu entkräften.

Der Kampf um diskursive Hegemonie

Wie politische Maßnahmen diskutiert, gestaltet und gerechtfertigt werden, ist vom öffentlichen Diskurs abhängig. Die russische Regierung muss sich also mit ihm auseinandersetzen. Er entscheidet darüber, was sie sagen kann, und was sie sagen muss, um ihre Macht nicht in Gefahr zu bringen. Ihre rhetorischen Kunststücke dienen dazu, die Behauptungen des Westens zu diskreditieren und ihre eigene Version der Ereignisse zu festigen.

Die entscheidende Frage ist, wie erfolgreich der Kreml damit ist. In Umfragen des Lewada-Zentrums gaben 78 Prozent der Befragten an, von dem Giftanschlag auf Nawalny gehört zu haben. Von ihnen waren 30 Prozent der Meinung, der Anschlag sei inszeniert worden, und 17 Prozent sahen in ihm eine Provokation westlicher Geheimdienste. Nur 15 Prozent glaubten der von westlichen Regierungen und Institutionen vertretenen Auffassung, dass es sich um einen Versuch der russischen Führung gehandelt habe, einen politischen Gegner aus dem Weg zu räumen.

Ein anderes Bild ergibt sich jedoch, wenn man auf das Alter der Befragten schaut. Während ein Großteil der über 55-Jährigen den Anschlag für inszeniert hielt, neigten junge Befragte bis einschließlich 24 Jahren zu der Auffassung, die russische Regierung habe Nawalny aus dem Weg räumen wollen. Der Versuch des Kremls, die Bevölkerung von seiner Version der Ereignisse zu überzeugen, ist also nur teilweise erfolgreich. Moskau hat Schwierigkeiten, junge Menschen zu erreichen, die durch das Internet und die sozialen Medien am stärksten mit andere Narrativen konfrontiert sind.

Implikationen für die EU

Die EU sollte sich die geteilten normativen Grundannahmen in ihrem Verhältnis zu Russland zunutze machen. Weder in der westlichen noch in der russischen Öffentlichkeit gilt es als legitim, mit Gewalt gegen prominente Oppositionelle vorzugehen. Vor diesem Hintergrund sollte die EU die russische Führung weiterhin zur Verantwortung ziehen und auf eine gründliche und transparente Untersuchung des Giftanschlags auf Nawalny drängen. Sie darf falsche Vorwürfe und Argumente, die dem Kreml dazu dienen, eigene Schuld und Verantwortung zu verschleiern, nicht unwidersprochen lassen. Grundlage der europäischen Position sollten dabei immer menschenrechtliche, demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien sein – Werte also, zu denen auch Russland sich öffentlich bekannt hat.

Wichtig ist, dass die EU im Allgemeinen ihre Beziehungen zur russischen Bevölkerung stärkt. Sie muss den Narrativen des Kremls Alternativen entgegensetzen können und lautstark gegen die Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit in Russland protestieren. Je mehr die EU in der russischen Gesellschaft Gehör findet, desto stärker wird die russische Führung unter Druck geraten, sich für ihre Politik zu rechtfertigen und Verantwortung zu übernehmen.


Mario Baumann ist Doktorand an der Brussels School of International Studies der University of Kent. Er dankt Dr. Sabine Fischer für ihre wertvollen Anregungen.