ZOiS Spotlight 21/2021

Der belarusische Kampf gegen häusliche Gewalt in Zeiten des Protests

Von Leandra Bias 02.06.2021
„Wage es nicht, mich zu schlagen“ steht auf dem Schild dieser Frau während einer Protestkundgebung in Belarus. IMAGO / ITAR TASS

Im August und September 2020 waren viele feministische Beobachter*innen in Belarus voller Hoffnung. Gerade waren die ersten Proteste gegen die belarusische Regierung ausgebrochen, nachdem es bei der Präsidentschaftswahl zu Manipulationen gekommen war. Die sogenannten Frauen in Weiß hatten es geschafft, die Dynamik der Proteste zu beeinflussen, deeskalierend zu wirken, und sie in eine friedliche und damit stärkere, nachhaltigere Bewegung zu verwandeln.

In den darauffolgenden Wochen gab es nicht nur Proteste, die von Frauen mit sehr unterschiedlichen gesellschaftlichen Hintergründen angeführt wurden, sondern auch eine erhöhte Sichtbarkeit von LGBT auf den Straßen von Belarus. Ein Foto von zwei jungen Frauen ging viral, die vor einer Polizeikette standen und sich unter der früheren, weiß-rot-weißen Landesflagge küssten, die zum Symbol der Opposition geworden ist. Die Menschen fühlten sich ermutigt, Banner hochzuhalten, auf denen zu lesen war: „Es ist besser, schwul als ein Diktator zu sein“ – eine Anspielung auf die Bemerkung des belarusischen Präsidenten Aljaksandr Lukaschenka aus dem Jahr 2012, es sei „besser, ein Diktator zu sein als schwul“. Alles in allem wirkten die Proteste wie ein entscheidender Wendepunkt für den belarusischen Feminismus.

Parallelen zwischen staatlicher und häuslicher Gewalt

Im Zuge der ersten Proteste im Sommer 2020 gingen die belarusischen Behörden auf breiter Front gewaltsam gegen Demonstrant*innen, Journalist*innen und andere Gruppen vor. Viele feministische Aktivist*innen – insbesondere die FemGroup, die als Arbeitsgruppe innerhalb des oppositionellen Koordinationsrats entstand – hatten den Eindruck, dass es zwischen der Gewalt auf den Straßen und der Gewalt, der Frauen in ihrem eigenen Zuhause ausgesetzt sind, auffällige Parallelen gebe. Häusliche Gewalt wurzelt in einem Weltbild, das mit Gleichheit nicht zurechtkommt. Am weitesten ist sie unter Männern verbreitet, die sich stark mit traditionellen, hierarchischen Geschlechterrollen identifizieren, in denen sie selbst eine überlegene Stellung einnehmen.

Es ist jedoch unmöglich, jederzeit alle Erwartungen zu erfüllen, die diese Hierarchie an den Einzelnen stellt. Deshalb leben diese Männer in einer konstanten Angst, als unmännlich „entlarvt“ zu werden – insbesondere von den anderen Männern um sie herum, die ihren sozialen Status bestätigen oder ihnen entziehen können. Das einzige Mittel gegen ihre Unsicherheit finden diese Männer darin, die eigene Stellung mit Gewalt gegenüber denjenigen zu behaupten, die sie als ihnen untergeordnet betrachten, also vor allem – aber nicht nur – Frauen.

Der aktuelle Forschungskonsens geht davon aus, dass es sich bei häuslicher Gewalt weniger um den Beweis einer tatsächlich vorhandenen Macht handelt, sondern vielmehr um einen temporären und verzweifelten Versuch, diese Macht für sich zu beanspruchen. Dasselbe Muster ist bei Lukaschenka zu beobachten. Er betrachtet die Bürger*innen von Belarus nicht als Menschen mit berechtigten Ansprüchen und Interessen, denen der Staat zu dienen hat, sondern als Untertanen, von denen er bedingungslosen Gehorsam verlangt. Für den Großteil seiner mittlerweile 26-jährigen Amtszeit hat diese Haltung dank des von ihm geschaffenen Klimas der Angst gut funktioniert. Im August letzten Jahres geschah jedoch ein Wunder, als zahllose Menschen in Belarus begannen, ihre Angst zu überwinden.  

Lukaschenka sieht sich durch den Ungehorsam der Protestbewegung bedroht und reagiert mit Verhaltensweisen, die für Missbrauchstäter typisch sind. Erstens zog er alle ihm verfügbaren Register, um so viel Kontrolle wie möglich über die Bürger*innen zu erlangen, insbesondere indem er unabhängige Medien ins Visier nahm. Zweitens stellte er in den staatlichen Medien die Demonstrant*innen als die wahre Bedrohung dar. Damit griff er auf zwei Mechanismen zurück, die aus dem Kontext häuslicher Gewalt bekannt sind: Er verkehrte die Rollen von Opfer und Täter und die mit ihnen verbundene Macht. Außerdem diffamierte er die Opfer, um sie so zu delegitimieren. Drittens suchte er sich die Unterstützung anderer Täter, allen voran die des russischen Präsidenten Wladimir Putin, um sich sein eigenes, falsches Narrativ bestätigen zu lassen. Demonstrant*innen haben sich diese Parallelen zwischen staatlicher und häuslicher Gewalt zunutze gemacht, wie das Beispiel eines Posters zeigt, das den häufig zur Entschuldigung häuslicher Gewalt verwendeten Spruch „Wenn er dich schlägt, dann liebt er dich“ aufgriff und zu „Wenn er dich schlägt, geht er ins Gefängnis“ abänderte.

Ein langer Kampf um Anerkennung

Nach Ansicht der Mitglieder der FemGroup handelte es sich deshalb um einen guten Zeitpunkt, dem Problem der häuslichen Gewalt mehr öffentliche Aufmerksamkeit zu verschaffen. Frauenrechtsorganisationen haben in diesem Bereich bereits einen langen Kampf hinter sich. Im Jahr 2002 wurden erste Versuche unternommen, ein Gesetz gegen häusliche Gewalt zu erlassen. Bis zum heutigen Tag aber ist Belarus neben Russland das einzige Land im postsowjetischen Raum, das noch keine Gesetze hat, die häusliche Gewalt unter Strafe stellen – und das, obwohl sie allgegenwärtig ist. Jedes Jahr registriert die Polizei etwa 150.000 Vorfälle.

Im Juli 2018 schien das Ziel der Aktivist*innen nach fast zweijährigen Verhandlungen zwischen dem belarusischen Innenministerium und Frauenorganisationen zum Greifen nah: Der Öffentlichkeit wurde ein Gesetzesentwurf gegen häusliche Gewalt präsentiert, der von allen relevanten Ministerien abgesegnet worden war. Aber nur wenige Monate später wurde er von Lukaschenka schroff zurückgewiesen. Dabei berief er sich auf das antiwestliche Anti-Gender-Narrativ, dem sich autoritäre Regime in der Region gerne bedienen: „Irgendwo hat irgendwer über diese ganze ‚Gegen häusliche Gewalt‘-Sache geredet. In der westlichen Welt ist dieser Ausdruck momentan im Trend. Bald werden sie dort keine Familien [mehr] haben.“ Kurz darauf gab das Innenministerium bekannt, dass der Gesetzesentwurf auf Eis gelegt wurde.

Die Proteste 2020-2021 lösten bei den Aktivist*innen neue Hoffnungen aus, häuslicher Gewalt wieder mehr Aufmerksamkeit verschaffen zu können. Jedoch haben FemGroup und andere berichtet, dass sie damit im Koordinationsrat auf taube Ohren stießen. Aus ihrer Sicht ist der Rat nach wie vor eine männlich dominierte Institution, auch wenn er von der Oppositionspolitikern Swjatlana Zichanouskaja geleitet wird. Hinzu kam die weitverbreitete Vorstellung, Männer seien die hauptsächlichen Opfer der staatlichen Gewalt gewesen, nicht zuletzt, weil sie die Mehrheit der politischen Gefangenen stellen.

Infolgedessen empfinden viele den Versuch, einen Fokus auf häusliche Gewalt zu setzen, als Ablenkung. Zudem erscheint es ihnen als ein weniger tragfähiges politisches Ziel für die Protestbewegung als die Forderungen nach Freiheit für alle politischen Gefangenen und freien und fairen Wahlen. Folgt man einer Umfrage des ZOiS vom Dezember 2020 in Belarus, dann ist diese Einschätzung wahrscheinlich richtig. Demnach nahmen die meisten Menschen wegen der staatlichen Gewalt und der gefälschten Präsidentschaftswahl an den Protesten teil, und nicht, weil sie für die Gleichheit der Geschlechter sind.

Wandel der öffentlichen Meinung sorgt für Optimismus

Nicht über häusliche Gewalt zu sprechen, ist besonders deshalb problematisch, weil es Grund zur Befürchtung gibt, dass sie in den letzten Monaten der Proteste zugenommen haben könnte. Ein Onlinemagazin aus Minsk hat vor Kurzem Erfahrungsberichte von Frauen veröffentlicht, die aufgrund ihrer politischen Ansichten und ihrer Einstellung zu den Protesten zuhause Gewalt erfahren haben. Dennoch bleiben die Mitglieder von FemGroup vorsichtig optimistisch, weil sie momentan einen Wandel der öffentlichen Meinung beobachten können. Weil viele Menschen die Gewalt auf den Straßen mit ihren eigenen Augen gesehen haben, stoßen Diskussionen über den Begriff des Zuschauertraumas mittlerweile auf offenere Ohren. Kinder können ein solches Trauma erleiden, wenn sie in ihrer Familie Missbrauch mitansehen müssen.

Die zwiespältige Lage des belarusischen Feminismus sollte daran erinnern, dass Frauenbewegungen sich immer schon durch Heterogenität ausgezeichnet haben und lange, mühsame Kämpfe durchstehen mussten. Es brauchte sowohl den Einsatz proletarischer als auch bürgerlicher Frauen, um das Frauenwahlrecht und das Recht auf Elternzeit zu erkämpfen. Es sollte von weiblichen Demonstrantinnen nicht verlangt werden, eine Revolution zu vollbringen, bevor man ihnen Beachtung schenkt. Wie die Moskau-Korrespondentin der deutschen Wochenzeitung Die Zeit, Alice Bota, in ihrem bald erscheinenden Buch Die Frauen von Belarus argumentiert, sollte allein schon die Tatsache, dass Frauen und ihre politischen Forderungen in einem autoritären Land wie Belarus im öffentlichen Raum sichtbar geworden sind, Anerkennung verdienen.


Dr. Leandra Bias arbeitet als Gender-Beauftragte und Senior Researcher bei der Schweizerischen Friedensstiftung swisspeace.