ZOiS Spotlight 19/2021

Andrej Sacharows Kampf für die Freiheit

Von Irina Scherbakova 19.05.2021
Büste Andrej Sacharows im russischen Nischni Nowgorod, dem Ort seines Exils. IMAGO / ITAR TASS

Am 21. Mai vor 100 Jahren wurde mit Andrej Sacharow der Schöpfer der sowjetischen thermonuklearen Bombe, zugleich aber auch die bedeutendste Figur der Menschenrechtsbewegung in der Sowjetunion geboren. Ende der 1960er Jahre war Sacharow zur Erkenntnis gekommen, dass das sowjetische System, das er lange Zeit bejaht hatte, von Natur aus unmenschlich sei. Sein Weg zu dieser Einsicht war jedoch kein leichter gewesen. In seinen Erinnerungen beschreibt Sacharow ausführlich seine Befreiung von Illusionen:

„Ich wusste bereits von den schrecklichen Verbrechen – Verhaftungen von Unschuldigen, Folter, Massenhunger, Gewalt. Ich konnte nicht anders als mit Empörung und Ekel an die Schuldigen denken. Natürlich wusste ich nicht alles und habe es nicht zu einem Gesamtbild zusammengefügt. Irgendwo im Unterbewusstsein saß bei mir auch der Gedanke, dass Grausamkeiten bei großen historischen Ereignissen unvermeidlich sind. […] Aber vor allem empfand ich eine Verpflichtung gegenüber dem Ziel, von dem ich annahm, dass Stalin es verfolgte – die Stärke des Landes aufzubauen, um ihm nach dem schrecklichen Krieg Frieden zu sichern. Gerade weil ich diesem Staat schon viel gegeben und viel erreicht hatte, habe ich mir eine illusorische Welt der Rechtfertigung geschaffen. […] Sehr bald habe ich Stalin aus dieser Welt vertrieben. […] Aber der Staat, das Land und die kommunistischen Ideale blieben. Ich brauchte Jahre, um zu verstehen und zu fühlen, wie viel Spekulation, Täuschung und Leugnung der Realität in diesen Konzepten lagen.“

Vom Physiker zum Menschenrechtler

1970 wurde Sacharow schließlich in der Menschenrechtsbewegung aktiv. Gemeinsam mit einer Gruppe von Dissident*innen gründete er das Moskauer Komitee für Menschenrechte, das sich mit der Sammlung und Veröffentlichung von Informationen über Menschenrechtsverletzungen in der UdSSR befasste. Er übte offen Kritik an den Machthabenden, schrieb Briefe zur Unterstützung politischer Häftlinge und ging zu politischen Prozessen. Er forderte die sowjetische Führungsriege auf, den 1944 deportierten Krimtatar*innen die Rückkehr in ihre Heimat zu ermöglichen, aus der Wolga-Region vertriebenen Russlanddeutschen die Ausreise nach Deutschland zu erlauben und die Schuld der UdSSR am Massaker von Katyn anzuerkennen, bei dem 1940 Tausende Polen erschossen wurden. Seit dieser Zeit wurde Sacharow von der Staatsicherheit beobachtet. Als er den Einmarsch der sowjetischen Truppen in Afghanistan offen verurteilte, wurde er im Januar 1980 nach Gorki (heute Nischni Nowgorod) ins Exil geschickt, in einer KGB-Wohnung isoliert und rund um die Uhr bewacht.

Mit dem Machtantritt Michail Gorbatschows im Jahr 1985 begann sich die Situation im Land zu ändern. Die Entscheidung für Sacharows Rückkehr aus dem Gorki-Exil wurde dabei zu einem Meilenstein – es war nun offensichtlich, dass im Land ein politischer Wandel anstand. Sehr bald nach seiner Rückkehr 1987 begann Sacharow, sich für den Kampf um die demokratische Reformierung des Landes, die Abschaffung des Einparteisystems, freie Wahlen und eine neue Verfassung einzusetzen.

Organisation von unten – die Gründung von „Memorial“

Im selben Jahr wurde im Moskauer Club „Perestroika“, wo es heftige öffentliche Diskussionen um die Zukunft des Landes gab, eine Gruppe gegründet. Zu Beginn bestand sie überwiegend aus jungen Aktivist*innen und ehemaligen Dissident*innen, aber allmählich schlossen sich ihr immer mehr Menschen unterschiedlicher Altersgruppen und Berufe an, die ihre Aufgabe als „Schaffung eines Komplexes zum Gedenken an die Opfer des sowjetischen Terrors“ formulierten. Später nannten sie sich „Memorial“, eine Initiative, die sich in verschiedenen Regionen der Sowjetunion ausbreitete.

Im Juni 1988 organisierte Memorial die erste Massenkundgebung zum Gedenken an die Opfer der politischen Repressionen in Moskau. Unter den Rednern war auch Sacharow. Die Unterstützung, die er Memorial gewährte, hat den Kreis der Sympathisant*innen erheblich erweitert. Ein Jahr später wurde Sacharow zum Vorsitzenden des Öffentlichen Rates der Organisation gewählt, dem auch weitere bekannte Persönlichkeiten angehörten, die sich in der Perestroika einen Namen gemacht haben.

Die Entstehung von Memorial und die zunehmende Zahl der Aktivist*innen, die sich landesweit in der Organisation engagierten, fällt auf die turbulenten Monate der Jahre 1988 und 1989. Das Ergebnis des scharfen politischen Kampfes für Reformen und Demokratie war keineswegs vorherbestimmt, doch Sacharow wurde zum wichtigsten Reformkämpfer. Memorial hat schließlich seine Kandidatur bei den ersten freien Wahlen 1989 für den Kongress der Volksdeputierten vorgeschlagen. In der ersten Ausgabe der gerade gegründeten Zeitung „Wedomosti Memoriala“ wurde Sacharows Wahlprogramm veröffentlicht, das für diesen Moment sehr radikal war: Er forderte marktwirtschaftliche Reformen, den Schutz der Persönlichkeitsrechte, die Meinungsfreiheit und die Offenheit der Gesellschaft in allen Bereichen des Lebens. Im letzten Punkt rief er dazu auf, die Folgen des Stalinismus auszurotten und einen Rechtsstaat zu etablieren. Bei der Gründungsversammlung von Memorial im Januar 1989 sagte Sacharow: „Gerade das Schicksal der Opfer, die bereits bekannt geworden sind und noch unbekannt sind, sollte im Mittelpunkt unserer Arbeit stehen.“

Das Ende Sacharows, aber der Beginn einer neuen Ära

Das dramatische Jahr 1989 endete mit dem II. Kongress der Volksdeputierten. Sacharow, der unermüdlich tätig war im Kampf für Reformen, hatte das Gefühl, dass der Reformprozess in eine Sackgasse geriet. Er appellierte an die Abgeordneten mit dem Aufruf, den Prozess zu beschleunigen. Seine Rede begann mit den Worten: „Die Perestroika in unserem Land trifft auf organisierten Widerstand.“ Am Abend desselben Tages, am 14. Dezember, starb Sacharow im Alter von 67 Jahren an plötzlichem Herzstillstand. Sacharows Abgang zeigte, wie groß seine Bedeutung für den Reformprozess der Sowjetunion war. Selbst sein Tod verlangsamte nicht, wie von der sowjetischen Nomenklatur gehofft, den Wiederaufbauprozess, sondern, im Gegenteil, beschleunigte ihn, da der Druck auf die Führungsriege stieg. Zu seiner Beerdigung erschienen Zehntausende Menschen und verwandelten sie in eine Manifestation.

Wenige Tage nach Sacharows Tod wurden auf dem Kongress der Volksdeputierten zwei wichtige Entscheidungen getroffen, die er lange und erfolglos angestrebt hatte. Zum einen wurde der Einmarsch der sowjetischen Truppen nach Afghanistan 1979 als politischer Fehler verurteilt, und zum anderen wurde anerkannt, dass es ein geheimes Zusatzprotokoll zum sowjetisch-deutschen Nichtangriffspakt von 1939 gab, das die Aufteilung Polens zwischen den beiden Vertragspartnern vereinbarte. Im März 1990 wurde schließlich der 6. Artikel aus der Verfassung entfernt und damit das sowjetische Einparteiensystem aufgehoben.

Sacharow wurde zum bedeutendsten Symbol der Perestroika. Das Fehlen solcher Figuren machte sich bereits in den 1990er Jahren immer deutlicher bemerkbar. Kein Politiker und keine Partei wirkte so überzeugend wie Sacharow. Heute, an seinem 100. Geburtstag, scheinen die Ideale von Freiheit und Demokratie, für die Sacharow kämpfte, angesichts des politischen Klimas in Russland wieder besonders aktuell.


Irina Scherbakova ist Historikerin, Publizistin und Gründungsmitglied von „Memorial“.