ZOiS Spotlight 22/2021

30 Jahre deutsch-polnischer Nachbarschaftsvertrag: Die Zivilgesellschaft ist am Zug

Von Peter Oliver Loew 09.06.2021
Die deutsch-polnische Grenze auf der Insel Usedom. IMAGO / fossiphoto

Wie rasch sich doch die Zeiten ändern: Als Bundeskanzler Helmut Kohl und Polens Ministerpräsident Jan Krzysztof Bielecki am 17. Juni 1991 ihre Unterschrift unter den deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag setzten, eröffneten sie ein neues Kapitel in den Beziehungen beider Länder. Heute sind die meisten Passagen des Vertrags längst von der Wirklichkeit überholt: Die Beziehungen, die vor einer Generation noch von der „hohen Politik“ geregelt werden mussten, werden heute vor allem von einer enormen Verflechtung der Gesellschaften, Volkswirtschaften und Kulturwelten getragen. Doch vielleicht werden sie ihren Höhepunkt schon bald überschritten haben? Denn das große Interesse, das die Nachbarn anfangs füreinander hatten, ist mittlerweile ein wenig erkaltet, und zwar nicht nur auf der politischen Ebene.

Wer den „Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit“ studiert, wie er mit vollem Namen heißt, stolpert immer wieder über Elemente, die aus einer anderen Zeit zu stammen scheinen – etwa dass Deutschland die „Heranführung der Republik Polen an die Europäische Gemeinschaft im Rahmen ihrer Möglichkeiten nach Kräften“ fördern solle (§ 8). Tatsächlich hat sich die Bundesrepublik vor 2004 maßgeblich für einen raschen EU-Beitritt Polens stark gemacht, gleichzeitig aber in Polen viel symbolisches Kapital vergeudet, indem sie ihren Arbeitsmarkt bis 2011 nicht ohne Beschränkungen für Pol*innen öffnete. Solche Entwicklungen, die innenpolitischen Debatten geschuldet sind, kann ein Vertrag kaum antizipieren, aber er kann sie zumindest abfedern.

Vertane Gelegenheit zur Aufarbeitung

Von heute aus betrachtet nutzte der Nachbarschaftsvertrag diese Chance zumindest im Bereich der Geschichtspolitik nicht: Die historischen Belastungen der Nachbarschaft durch den Zweiten Weltkrieg werden zwar in der Präambel des Vertrags angesprochen, aber nicht beim Namen genannt („in dem Bestreben, die leidvollen Kapitel der Vergangenheit abzuschließen“). Und später kehren sie nur zwischen den Zeilen wieder, etwa wenn in § 28 von den Problemen „im Zusammenhang mit Kulturgütern und Archiven“ die Rede ist. Diese symbolische Leerstelle steht stellvertretend für die Zeit des Aufbruchs Anfang der 1990er Jahre, hat aber bis heute Folgen. Auf der rechten Seite des politischen Spektrums in Polen wird seit vielen Jahren immer wieder gebetsmühlenartig erklärt, Deutschland stelle sich seiner historischen Verantwortung nicht in ausreichendem Maße. Immerhin: Während die seit 2015 regierende nationalkonservative Regierung in Warschau seit Jahren an Reparationsforderungen gegenüber Deutschland bastelt, hat der Bundestag eine zivilgesellschaftliche Initiative aufgegriffen und im Herbst 2020 einen „Ort des Erinnerns und der Begegnung mit Polen“ beschlossen. Sollte dieser demnächst entstehen, hätte er ausgezeichnete Möglichkeiten, Wissensdefiziten in beiden Gesellschaften entgegenzuwirken.

Dennoch gibt es auch zahlreiche vom Vertrag initiierte Erfolgsgeschichten: das Deutsch-Polnische Jugendwerk, die Anerkennung von Bildungsabschlüssen oder die Zusammenarbeit beim Katastrophenschutz. Auch trug er zur administrativen Verflechtung beider Staaten bei. So legt der Vertrag etwa jährliche Regierungskonsultationen fest, die einem regelmäßigen Erfahrungsaustausch dienen sollen. Allerdings fanden die letzten derartigen Konsultationen 2018 statt. Seither wurden – nicht zuletzt aufgrund der Corona-Pandemie – keine neuen Beratungen auf höchster Regierungsebene mehr vereinbart, und vor den Bundestagswahlen im Herbst sind sie auch nicht mehr zu erwarten. Diese auffälligen Kommunikationsstörungen liegen letztlich auch daran, dass es in vielen Fragen erhebliche Meinungsunterschiede zwischen Berlin und Warschau gibt und angesichts der gegenwärtigen politischen Konstellationen kaum Aussicht darauf besteht, auf politischer Ebene zukunftsorientierte Debatten führen zu können. Dass Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zum 30. Jahrestag des Nachbarschaftsvertrags am 17. Juni nach Warschau reisen wird, ist in der Presse als Versuch bewertet worden, die Beziehungen wenigstens nicht noch schlechter werden zu lassen.

Der politische Blick übersieht die Erfolge

Die Beziehungen sind auch deshalb schlecht, weil viele Medien in beiden Staaten es an Redlichkeit vermissen lassen und immer wieder altbekannte Bilder vom Nachbarn verbreiten. Dass Polen in Sachen Digitalisierung oder Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung weit vor Deutschland liegt oder dass Deutschland hinsichtlich seiner gesellschaftlichen Integrationsleistung und seiner Innovationsstärke bedeutende Erfolge vorzuweisen hat, gerät deshalb oft aus dem Blickfeld. Das liegt auch daran, dass die mediale Wahrnehmung beider Staaten nach wie vor in erster Linie über politische Themen erfolgt.

Immer wieder zu wenig beachtet wird jedoch, dass die deutsch-polnischen Beziehungen jenseits des politischen Dialogs hervorragend funktionieren: Es gibt eine breite Palette deutsch-polnischer zivilgesellschaftlicher Kontakte von nie dagewesener Dichte, die von Vereinen, Gesellschaften und kulturellen Initiativen getragen werden. Ein Sprachrohr hat diese Ebene des Miteinanders bislang noch nicht, obwohl sie von großer Dynamik und Kreativität geprägt ist. Ohne die Kuratel der jeweiligen Regierungen zusammenzukommen und zu debattieren, wäre die Chance für einen neuen Aufbruch – so jedenfalls argumentiert die deutsch-polnische Kopernikus-Gruppe in einem dieser Tage erscheinendem Aufruf. Denn bislang usurpieren kleine Interessengruppen mit eindeutig politischer Agenda vielfach die öffentliche Wahrnehmung.

Dabei ist durchaus Eile geboten, denn das Interesse am Nachbarland droht sowohl in Polen als auch in Deutschland nachzulassen. Man sieht das schon am Deutsch- und Polnischunterricht, zu deren Unterstützung sich beide Länder im Nachbarschaftsvertrag verpflichtet haben. Während der Anteil der Deutschlernenden in Polen unaufhaltsam – wenn auch von einem relativ hohen Niveau – zurückgeht und kaum mehr von breiter kultureller Neugier auf Deutschland gesprochen werden kann, beschränken sich die deutschen Initiativen für Polnischunterricht größtenteils auf den herkunftssprachlichen Unterricht. Die Reduktion von Polenkompetenz auf eine Bevölkerungsgruppe mit Migrationshintergrund wird jedoch vermutlich nur sehr eingeschränkt und wenn, dann nur vorübergehend zu einem steigenden gesamtgesellschaftlichen Interesse an Polen führen. Angesichts des sich abzeichnenden demographischen Wandels in Polen wird das Land überdies als Arbeitskräftereservoir für Deutschland rasch an Bedeutung verlieren. Auch deshalb könnte sich die zivilgesellschaftliche Verflechtung beider Länder in den nächsten Jahren rasch lockern, sofern nicht neue Impulse die Attraktivität eines bilateralen Dialogs steigern: Dazu sollte etwa eine gemeinsame Debatte über Zukunftsthemen zählen, und zwar eine Debatte, die nicht nur in den politischen Blasen der Hauptstädte, sondern in der gesamten geographischen und gesellschaftlichen Breite beider Länder geführt werden müsste. 


Prof. Dr. Peter Oliver Loew ist Direktor des Deutschen Polen-Instituts.