ZOiS Spotlight 12/2020

Kirchen und die Corona-Krise in Osteuropa: Nur der Glaube hilft?

Von Regina Elsner 25.03.2020
Ein Gläubiger mit Mundschutz während einer Abendmesse im Hohen Peterskloster in Moskau, Russland. © imago images / Sergei Bobylev / TASS

Das Coronavirus machte bisher an keiner Grenze halt, sondern verbreitete sich mit rasender Geschwindigkeit in der ganzen Welt. Politik, Gesellschaften und Gesundheitssysteme stehen vor enormen Herausforderungen. Die Art und Weise, wie die Menschen mit der Pandemie umgehen, hängt weltweit auch von den Positionen zentraler gesellschaftlicher Akteure ab, die besonderes Vertrauen genießen. In vielen Ländern Osteuropas sind dies die Kirchen, die vor allem durch den persönlichen Kontakt in ihrer Gemeinde für die Menschen eine große Bedeutung haben, allen institutionellen Konflikten zum Trotz. Wie aber reagieren die verschiedenen christlichen Kirchen auf die massiven Veränderungen?

Eine existentielle Herausforderung

Die Maßnahmen zur Einschränkung der Pandemie betreffen die Kirchen existentiell: Zum einen ist das gemeinschaftliche Feiern von Gottesdiensten Kern des christlichen Selbstverständnisses. Zum anderen stellt der regelmäßige Empfang der Heiligen Kommunion die wichtigste religiöse Handlung für die Gläubigen dar. Durch sie sind Christ*innen Teil einer besonderen, heilenden Gemeinschaft mit Gott. Die Kommunion ist aber mit einem äußerst dichten Kontakt zum Priester sowie zu anderen Gläubigen verbunden, der die Weitergabe von Viren stark begünstigt. Ähnliches gilt für die Verehrung von Ikonen und Reliquien, die häufig geküsst oder zumindest berührt werden.

In den westlichen Ländern haben die Kirchen mit einem allgemeinen Gottesdienstverbot und einer Schließung vieler Häuser auf die Pandemie reagiert. Dies hat, außer in einigen erzkonservativen Kreisen, keinen Protest der Gläubigen hervorgerufen. Eine Erklärung für diese besonnene Reaktion auf die radikalen Einschnitte in das religiöse Leben dürfte die fortgeschrittene Individualisierung der Religiosität sein. Die aufgrund der Corona-Krise anstehenden Verluste von kirchlicher Gemeinschaft im Gottesdienst sind zwar schmerzhaft, stellen allerdings die Kirchlichkeit an sich nicht in Frage.

Halbherzige Maßnahmen

In Osteuropa unterscheidet sich diese Situation deutlich. Keine der Kirchen dort, weder die Polnische Katholische Kirche noch die zahlreichen orthodoxen Kirchen, haben sich dem jeweiligen Versammlungsverbot angeschlossen, das auch die meisten osteuropäischen Staaten inzwischen beschlossen haben. Einige bieten mehr Gottesdienste am Tag an, damit die Kirchen nicht überfüllt sind, in Litauen wurde die Nutzung von Weihwasser verboten. Die Georgische Orthodoxe Kirche bat den Staat um Hilfe bei der Desinfizierung der Kirchen. Das Moskauer Patriarchat hat für seine Gläubigen in Russland und in der Ukraine besondere Hygienemaßnahmen bei der Ikonenverehrung und dem Empfang der Heiligen Kommunion verordnet. Lediglich die Orthodoxe Kirche in der Ukraine hat dazu aufgerufen, Gottesdienste ohne Gemeinde durchzuführen und diese online zu übertragen, sowie die Handkommunion anstelle der Mundkommunion erlaubt.

Alle Kirchen weisen auf die Notwendigkeit der staatlich verordneten Beschränkungen im täglichen Leben hin, die allerdings in Bezug auf Gottesdienst und Kommunionempfang nicht gelten sollen. Durch die heiligen Gaben von Brot und Wein könne keine Erkrankung übertragen werden, so die einhellige Botschaft. Diese werden vielmehr als Geschenk Gottes zur Heilung und Reinigung der Menschen verstanden. Verfechter dieser Überzeugung berufen sich darauf, dass noch nie eine Erkrankung durch die Kommunion erfolgt sei, auch nicht bei der Krankenseelsorge mit schwer ansteckenden Patienten. Belastbare Studien dazu gibt es freilich nicht.

Für und Wider der Einschränkungen

Es gibt einige eher politische Gründe, den Forderungen nach den radikalen Eingriffen in das Gottesdienstleben nicht zu entsprechen. In vielen Kirchen haben in den letzten Jahren fundamentalistische Kreise großen Einfluss gewonnen und drohen bei jeglichen Neuerungen mit dem Kirchenbruch. Zumindest in Russland ist die Kirche außerdem bestrebt, das Herunterspielen der Pandemie durch die Regierungen nicht zu unterwandern.

Allerdings stehen auch theologische Themen im Raum. Dass sich die Russische Orthodoxe Kirche weigert, Kernhandlungen des religiösen Lebens zu ändern, ist zum einen mit der russischen Kirchengeschichte zu erklären. Erneuerungen, besonders im Bereich der Liturgie, haben mehrfach zu existentiellen Krisen der Kirche geführt. Zum zweiten erinnert eine erzwungene Verlegung des Glaubens in den privaten Raum viele Menschen in Osteuropa an die schmerzhaft durchlebte Sowjetzeit, in der Religiosität unterdrückt wurde. Gerade in gesellschaftlichen Krisenzeiten ist die Kirche ein Zufluchtsort für die Menschen, den gemeinsamen Gottesdienst will man sich nie wieder verbieten lassen. Zum dritten demonstriert der Umgang mit der Pandemie auch die Überzeugung, dass die Kirche von der Gesellschaft und ihren Herausforderungen in gewisser Weise getrennt existiert, dadurch einen Schutzraum bietet, in dem die Regeln des weltlichen Lebens nicht gelten.

Natürlich hätten die Kirchen aber auch das Potential, die staatlichen Maßnahmen theologisch zu rechtfertigen. Die aktuelle Fastenzeit würde es erlauben, den Kommunionverzicht als Form der vorösterlichen Besinnung zu verstehen. Und das Aussetzen des Gottesdienstes als Schutzmaßnahme für die Schwächsten der Gesellschaft kann als Nächstenliebe gelesen werden. Liturgie dürfe nicht vergöttert werden, wie der orthodoxe Liturgiewissenschaftler Nicholas Denysenko schreibt. Schließlich gibt die reiche Tradition der Eremiten Hinweise, dass auch der allein gelebte Glauben wertvoll sein kann.

Pandemie-Maßnahmen als „Verweltlichung“?

Die Orthodoxe Kirche der Ukraine ist aufgrund der von ihr beschlossenen Schritte bereits dem Vorwurf der Verweltlichung durch andere orthodoxe Kirchen ausgesetzt. Aber auch unter orthodoxen, evangelikalen und katholischen Gläubigen in den USA wird die Diskussion um die existentielle Bedeutung von gemeinsamem Gottesdienstes und Kommunion äußerst kontrovers geführt. Beides deutet darauf hin, dass sich weltweit Teile der Kirchen auch gegen die Anpassung an den Zeitgeist des „liberalen Westens“ stellen, indem sie die gesellschaftlichen Strategien der Pandemie-Bekämpfung ablehnen. Einige Kirchenoberhäupter gingen sogar so weit, eine Parallele zwischen dem Coronavirus und genderneutraler Erziehung, Homosexualität und Säkularisierung zu ziehen. Unter ihnen sind Metropolit Hilarion, Vorsitzender des Außenamtes des Moskauer Patriarchats, Bischof Philaret (Denyssenko) vom sogenannten Kiewer Patriarchat, Bischof Mark von der Russischen Orthodoxen Kirche in Deutschland und Kardinal Burke von Rom. Nur der wahre Glauben schütze davor, sich mit diesen „weltlichen Krankheiten“ anzustecken.

In St. Petersburg und Moskau werden ausgerechnet in diesen Tagen zwei hochverehrte Reliquien ausgestellt. Die langen Warteschlangen stehen in großem Kontrast zu den weltweiten Maßnahmen des „social distancing“. Das gilt auch für lokale Gebetsprozessionen „zum Schutz vor dem Coronavirus“ mit teilweise hunderten Teilnehmer*innen. Solange die Kirchenleitungen die staatlichen Maßnahmen nicht konsequent unterstützen, lassen sie ihre Gläubigen in einem scheinbaren Widerspruch von geistlicher Welt und Lebenswelt allein, tragen nicht zur Aufklärung über das Coronavirus bei und fördern Verschwörungstheorien.


Regina Elsner ist Theologin am ZOiS und beschäftigt sich in ihrem Forschungsprojekt mit dem sozialethischen Diskurs der Russischen Orthodoxen Kirche zwischen theologischer Souveränität und politischer Anpassung.