Expert*innenstimme

Vor dem 9. Mai – Russlands „Tag des Sieges“ in Deutschland

Von Tatiana Golova 05.05.2022

Am 9. Mai wird in Russland traditionell der sowjetische Sieg über Nazideutschland im Zweiten Weltkrieg begangen. Aber auch für Russischsprachige im Ausland ist es ein zentraler Tag. Tatiana Golova erklärt, welche Bedeutung der „Tag des Sieges“ hat und warum man in Berlin in diesem Jahr dem Datum mit Unbehagen entgegensieht.

Wie wird der 9. Mai in Russland gefeiert?

Zum einen gibt es eine private Tradition des Erinnerns und zweitens eine öffentliche, die traditionell – schon seit der sowjetischen Zeit – militarisiert und für die Identitätspolitik vereinnahmt wird. So passierte es beispielsweise mit den Umzügen des „Unsterblichen Regiments“, deren Initiatoren eigentlich versucht hatten, das Gedenken zu demilitarisieren und zu demokratisieren: Menschen sollten mit Portraits eigener Verwandter, die gegen Nazideutschland gekämpft haben, auf die Straße gehen, um das persönliche Gedenken öffentlich zu machen. Mit der Zeit wurden diese Umzüge aber stark vom offiziellen Patriotismus und militaristischen Symbolen, die durchaus auch aus der breiten Bevölkerung kommen, geprägt. Die Umzüge des „Unsterblichen Regiments“ werden nun in Russland staatlich kontrolliert und im Ausland in die Landsleute-Politik integriert. Der Tag des Sieges wird somit in die Doktrin der „Russischen Welt“ eingebaut.

Welche Rolle spielt der 9. Mai für die Russischsprachigen im Ausland?

Die Vereinnahmung des Tages ist in Ländern mit größeren russischen Minderheiten brisant, die auch ansonsten prorussisch politisch mobilisiert werden sollen, wie in Estland oder Lettland. Die Gedenkfeiern sind einerseits stark von Entwicklungen in Russland geprägt. Für migrantische Communities hat das Gedenken am „Tag des Sieges“ andererseits auch spezifische Momente: Es ist eine Identitätsfrage einer Minderheit, die sich mit Russland als imaginierter Heimat verbindet und im Gedenken Züge einer Diaspora-Gemeinschaft entwickelt. Das große Anliegen der russischen Landsleute-Politik ist es, den russischen Staat und das jetzige Regime als legitime und einzig denkbare Vertreter Russlands und seiner Geschichte zu präsentieren bzw. sie miteinander gleichzusetzen. Durch diese Gleichsetzung erscheint Kritik am russischen Angriffskrieg plötzlich wie eine Kritik am konkreten, möglicherweisen eigenen Opa, der gegen Nazideutschland gekämpft hat.

Was kann man im Zusammenhang mit Russlands Krieg in der Ukraine rund um den 9. Mai in Deutschland beobachten?

Die Kontroversen um das Gedenken am 9. Mai, die in baltischen Ländern und in der Ukraine schon länger präsent sind, sind in Deutschland seit 2014, nach der russischen Annexion der Krim und dem Beginn des Krieges in der Ostukraine, sichtbar geworden. Dieses Jahr werden sie natürlich noch intensiver ausgetragen, was sich unter anderem anhand einer großen Anzahl von Veranstaltungen auch in Berlin bemerkbar macht. Auch der Umzug des „Unsterblichen Regiments“ findet in diesem Jahr nach zwei Jahren coronabedingter Pause wieder statt. Vor dem Hintergrund der prorussichen Autokorsos der letzten Wochen soll die Verwendung kriegsverherrlichender Symbole durch Auflagen der deutschen Behörden eingeschränkt werden. (Zum „Tag des Sieges“ ist übrigens von den Organisator*innen eines der ersten jener prorussischen Autokorsos für den 8. Mai in Köln wieder ein Autokorso angemeldet.) Besonders interessant ist die zweitägige Aktion „Gedenken gegen den Krieg“ am Sowjetischen Ehrenmal im Tiergarten, weil hier russischsprachige Aktivist*innen am symbolhaften Ort einen Versuch unternehmen, ein alternatives Gedenken aus der Perspektive Russischsprachiger zu entwickeln.

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