Expert*innenstimme

Ein Jahr nach den Protesten von Chabarowsk

Von Tatiana Golova 08.07.2021

Im Jahr 2020 kam es in Chabarowsk im sogenannten Fernen Osten Russlands zu monatelangen Protesten. Ausgelöst hatten sie die Verhaftung und Festsetzung des Gouverneurs Sergej Furgal, dem vorgeworfen wurde, in den frühen 2000er Jahren Morde an konkurrierenden Unternehmern organisiert zu haben. Auf ihrem Höhepunkt beteiligten sich an den Demonstrationen und Kundgebungen allein in der Regionalhauptstadt mehr als 10.000 Menschen. Tatiana Golova hat die Mobilisierung in den russischen sozialen Medien rund um die Festnahme Furgals und die Proteste untersucht und ordnet die Ereignisse aus heutiger Sicht ein.

Während der Proteste gab es unter dem Slogan „Ich/Wir sind Chabarowsk“ vielerorts Solidaritätsbekundungen, auch über Russland hinaus. Wäre denn eine solche langanhaltende Mobilisierung wie in Chabarowsk auch anderswo in Russland denkbar?

Die Proteste in Chabarowsk wurden durch eine Kombination verschiedener Faktoren befeuert: Auswirkungen der ökonomischen Krise auf die städtische Bevölkerung; die jüngste Geschichte der Protestwahlen in der Region und damit einhergehend der Erfahrung der Wähler*innen, dass ihre Stimme etwas bewegen kann (die sich in Empörung verwandelte, als dieser Erfolg „weggenommen“ wurde). Dazu kommt die regionale Identität, die eine symbolische Opposition zum föderalen Zentrum förderte; schließlich die Popularität des Gouverneurs selbst – und das alles vor dem Hintergrund lang anhaltender Unzufriedenheit mit der „Machtpartei“ Einiges Russland. Die Mobilisierung von Chabarowsk mag einzigartig sein, aber verschiedene Kombinationen dieser Elemente sind auch woanders zu finden, speziell in Regionen mit starken regionalen Identitäten, die offen für die Politisierung der Spannungen zwischen Zentrum und Peripherie sind. Chabarowsk selbst ist inzwischen zu einem Protestsymbol geworden.

Der abgesetzte Gouverneur Sergej Furgal gehörte der Partei LDPR und damit der sogenannten Systemopposition an. Welche Rolle spielt sie im politischen System?

Die Parteien der Systemopposition haben eine ambivalente Rolle: Einerseits sie sind ein wichtiger Teil des Regimes und somit ist es ihren Kandidaten möglich, bei Wahlen anzutreten. Andererseits können diese Figuren durchaus die Unterstützung unzufriedener Wähler*innen und Aktivist*innen bekommen und – nicht unbedingt gezielt – diese Kräfte bündeln. Das passierte schon vor Alexej Nawalnys Smart Voting Projekt, erreichte mit ihm aber neue politische Bedeutung. Die LDPR in Chabarowskij Kraj wird eine solche Bündelung allerdings nicht mehr erreichen, da sie ihre Glaubwürdigkeit nach der ausgefallenen Unterstützung von Furgal eingebüßt hat.

Wie sind die verstärkten Repressionen, die es seit einiger Zeit gegen Opposition, Zivilgesellschaft und Journalist*innen gibt, in diesem Zusammenhang zu bewerten?

Diese Entwicklung umfasst nicht nur die Verschärfung der repressiven Maßnahmen auf der juristischen und praktischen Ebene, sondern auch deren stetige Ausweitung auf weitere Personenkreise und (vor)politische Räume. Aus dem Fall Chabarowsk hat das Regime gelernt, dass Menschen auch in der Provinz für ihre Stimme bzw. für einen gewählten Politiker auf die Straße gehen können. Der Zugang zu den Wahlen wird für unabhängige Kandidat*innen, ob sie mit Nawalnys Projekten oder Otkrytaja Rossija zu tun hatten oder nicht, weiter eingeschränkt. Umso mehr wird es von den Parteien der Systemopposition abhängen, ob alternative Kandidat*innen unter ihrer Schirmherrschaft einen solchen Zugang finden. Solche Fälle sind bekannt, allerdings dürften sie eher eine Ausnahme bleiben: Parteifunktionäre wollen sich selbst vor damit einhergehenden Risiken schützen.

 

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