Expert*innenstimme

Armenien sagt Militärübung mit Russland ab

Von Nadja Douglas 11.01.2023

Armenien will in diesem Jahr keine von Russland geführten Militärübungen im Rahmen des OVKS-Bündnisses auf seinem Staatsgebiet zulassen. Was bedeutet das für die Region Südkaukasus und wie belastet sind die Beziehungen der beiden Länder?  Im Interview erläutert Nadja Douglas, Expertin für Sicherheitspolitik am ZOiS, die Lage.

Armeniens Premierminister Nikol Paschinjan bezeichnete Russlands militärische Präsenz in seinem Land kürzlich als eine „Bedrohung“ und verweigerte eine geplante Militärübung auf armenischem Boden. Dabei sind die beiden Staaten eigentlich über die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) verbündet. Was bedeuten die aktuellen Ereignisse für das Verhältnis der beiden Länder?

Das Verhältnis zwischen Armenien und Russland ist derzeit an einem Tiefpunkt. Nachdem für Armenien verlustreichen Krieg gegen Aserbaidschan um Bergkarabach 2020, entsandte Russland ein Friedenstruppenkontingent in die umstrittene Region. Seither kam es, insbesondere im September letzten Jahres, immer wieder zu aserbaidschanischen Offensiven auf armenischem Staatsgebiet. Zudem ist seit vergangenem Dezember die Lebensader und Hauptversorgungsroute Bergkarabachs, der Laschin-Korridor, von regierungsnahen aserbaidschanischen Umweltschützer*innen besetzt, was armenischen Berichten zufolge zu einer humanitären Notlage in der isolierten Region führt. Die Kritik an den russischen Friedenstruppen und unmittelbar an Russland hat sich in den letzten Tagen und Wochen potenziert: Anti-russische Proteste vor der russischen Militärbasis in Gyumri fordern einen Austritt Armeniens aus der OVKS und das Ende der „russischen Besatzung“. Auch Paschinjan hat deutliche Worte gegenüber Russland gefunden und forderte die internationale Gemeinschaft zum Handeln auf, zum Beispiel durch Entsendung einer internationalen Untersuchungsmission zur Beurteilung der Lage vor Ort. Auch eine Erweiterung des russischen Mandats durch den UN-Sicherheitsrat oder die Einsetzung einer multinationalen UN-Mission werden in Armenien diskutiert.

Armenien gilt sicherheitspolitisch als abhängig von Russland. Welche Perspektive gäbe es ohne russische Unterstützung noch für die Durchsetzung armenischer Interessen in der Region?

Trotz aller Kritik an Russland durch die armenische Regierung, Expert*innen und die Zivilgesellschaft hat Armenien nach wie vor keine wirkliche sicherheitspolitische Alternative zu Russland als Schutzmacht. Die Frage ist jedoch, inwieweit Armenien sich noch auf Russland verlassen kann, das zunehmend unberechenbar agiert. Die armenischen Regierungen haben in der Vergangenheit große Zugeständnisse gemacht, um den russischen Partner nicht zu verprellen, zum Beispiel hinsichtlich wirtschaftlicher und politischer Kooperationen mit dem Westen, aber auch mit Blick auf Übernahmen armenischer Staatsunternehmen und der zunehmenden Abhängigkeit von Russland im Energiebereich. Armenien könnte vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine und der internationalen Schwächung Russlands trotz allem profitieren, indem es seine einseitige Abhängigkeit von Russland mithilfe von anderen Partnern beginnt abzubauen. Was die derzeitigen Verhandlungen mit Aserbaidschan betrifft, ist dies bereits Realität, seitdem die USA zuletzt im September einen Waffenstillstand vermittelten und die EU eine wichtige Rolle in der Friedensverhandlung als Alternative zu Russland eingenommen hat.

In einigen ehemaligen Sowjetrepubliken versucht der Kreml seit langem Einfluss zurückzugewinnen und scheut auch vor militärischen Interventionen nicht zurück. Im Bergkarabach-Konflikt lässt Russland jedoch die aserbaidschanischen Offensiven relativ unbeantwortet. Wie ist diese Zurückhaltung im Rahmen der strategischen Ausrichtung russischer Sicherheitspolitik zu deuten?

Armenien hat zurecht wiederholt kritisiert, dass die OVKS trotz Beistandsgarantien nach Art. 4 des Vertrages untätig gegenüber Aserbaidschan geblieben ist. Russland torpedierte zudem im Dezember einen Resolutionsentwurf des UN-Sicherheitsrates, der die aserbaidschanische Blockade des Latschin-Korridors verurteilte. Russlands Agieren ist teilweise dadurch zu erklären, dass es in mehrfacher Hinsicht unter Druck steht. Da militärische Kräfte in der Ukraine gebunden sind, muss der Kreml eine Eskalation in Bergkarabach unter allen Umständen vermeiden. Russland lässt Aserbaidschan aber zurzeit auch deswegen gewähren, weil der Druck der aserbaidschanischen Seite wächst und Präsident İlham Alijew die Schwäche Russlands auszunutzen versteht. Sollte Putin entscheiden, robust gegen aserbaidschanische Kräfte vorzugehen, würde er unweigerlich Probleme mit der Türkei, wichtigster strategischer Partner Aserbaidschans, bekommen. Da Russland aber derzeit international relativ isoliert ist und der türkische Präsident Recep Erdoğan einer der wenigen autoritären Staatschefs ist, der aus taktischen Gründen noch mit dem Kreml kooperieren, wird hier die Konfrontation gescheut. Letztlich ist Aserbaidschans Bedeutung seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine auch geostrategisch und als alternative Transport- und Transitroute für Russland gewachsen.

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