Expert*innenstimme

Angriff auf Bergkarabach

Von Nadja Douglas 25.09.2023

Unter dem Vorwand einer Anti-Terror-Operation hat Aserbaidschan letzte Woche einen großen Angriff auf Bergkarabach gestartet. Nach einem Waffenstillstand, der nach Einschätzung von Beobachter*innen einer Kapitulation gleichkam, und Gesprächen ist die Zukunft der in der Region lebenden ethnischen Armenier*innen unklar.
Ihre Situation hatte sich in den letzten Monaten aufgrund von Blockaden wichtiger Versorgungswege durch die aserbaidschanische Regierung immer weiter zugespitzt und zu einer humanitären Katastrophe geführt. Wir haben die ZOiS-Politologin Nadja Douglas um ihre Einschätzung gebeten.

Gibt es eine Zukunft für die Armenier*innen in Bergkarabach? Können sich die Menschen nach Armenien in Sicherheit bringen?

Das ist momentan die große und entscheidende Frage. Alles hängt davon ab, wie die aserbaidschanische Seite sich verhalten wird. Wird Aserbaidschan bereit sein, tatsächlich Zugeständnisse hinsichtlich gewisser Minderheitenrechte oder zumindest Garantien mit Blick auf Sicherheit und Menschenrechte für die armenische Bevölkerung Bergkarabachs zu machen? Oder wird es dazu übergehen, populistischen Stimmen im Land oder auch der vormaligen Rhetorik von Präsident Aliev selbst nachzugeben, der eine Vertreibung der ethnischen Armenier*innen aus der Region fordert beziehungsweise gefordert hat? Es sind bereits etwa Zweitausend Geflüchtete im armenischen Kernland angekommen, angeblich sind aber noch Tausende im Begriff, sich auf den Weg nach Armenien zu machen. Zwar fehlen gesicherte Informationen, aber Beobachter*innen zufolge hat ein Großteil der Bevölkerung kein Vertrauen und befürchtet massive Unterdrückungen oder Ziel von Racheakten Aserbaidschans zu werden. Die armenische Regierung hatte angekündigt, sich darauf vorzubereiten 40.000 Familien aus Bergkarabach aufzunehmen. Das kleine verarmte Land wäre aber wahrscheinlich damit überfordert, der gesamten Bevölkerung Karabachs Schutz zu gewähren. Das Schicksal der verbliebenen Menschen ist indes vollkommen ungewiss, sollte es zu einer Fortsetzung oder Verschärfung der Maßnahmen der aserbaidschanischen Seite kommen.

Eigentlich galt Russland als Schutzmacht Armeniens und war scheinbar auch als Vermittler des aktuellen Waffenstillstands aktiv. Welche Rolle spielt Russland noch in dem Konflikt?

Russland beziehungsweise. die sogenannten russischen Friedenskontingente sind im Begriff, sich aufgrund des eigenen passiven und wenig konstruktiven Agierens in der Region selbst überflüssig zu machen. Die Friedenstruppen haben es spätestens seit Beginn der Blockade des Latschin-Korridors im Dezember 2022 nicht vermocht, das Mandat aus dem trilateralen Waffenstillstandsabkommen vom 9. November 2020 zu erfüllen. Russland ließ Aserbaidschan gewähren und ist nicht eingeschritten, weder bei sporadischen Einfällen aserbaidschanischer Einheiten auf armenisch kontrolliertem Gebiet, noch während der Blockade der einzigen Versorgungsroute in die Region Bergkarabach. So konnte Aserbaidschan schrittweise zur Gewissheit gelangen, dass es noch weitergehen kann und eine gewaltsame ‚Reintegration‚ erzwingen könne, ohne dass Russland oder andere Kräfte dagegen etwas unternehmen würden. Schlimmer noch: Russland hat sich nun, indem es aktiv bei der sogenannten Evakuierung der armenischen Bevölkerung Bergkarabachs unterstützt, von Aserbaidschan instrumentalisieren lassen Die Vermittlung des aktuellen Waffenstillstands war sicher eine der letzten russischen Interventionen dieser Art in der Region. Aserbaidschan wird alles daransetzen, die russischen Friedenstruppen, die nun de facto ein Großteil ihrer Aufgaben verloren haben, so bald als möglich loszuwerden.

Armeniens Vertrauen in Russland als seiner einzigen militärischen Schutzmacht wurde in ihren Grundfesten erschüttert. Die bilateralen Beziehungen zwischen beiden Ländern sind an einem Tiefpunkt angekommen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die ohnehin in der Bevölkerung unbeliebte russische Militärpräsenz in Gyumri unter einer Regierung des aktuellen armenischen Präsidenten Paschinjan in Frage gestellt wird. Doch auch ohne einen vollständigen Abzug der russischen Truppen aus dem Südkaukasus hat Russland seine Rolle als Ordnungsmacht in der Region weitgehend eingebüßt.

Welche Möglichkeiten hat die EU, für die Sicherheit der Menschen in Bergkarabach zu sorgen?

Die EU hat zwar keinen direkten Einfluss auf die Sicherheit der Menschen in Bergkarabach. Die zivile Beobachtungsmission der EU auf armenischem Territorium hat keinerlei Handlungsmöglichkeiten. Darüber hinaus ist die EU militärisch in der Region nicht engagiert. Natürlich können einzelne EU- Vertreter*innen, EU-Parlamentarier*innen oder auch Regierungschefs und Staatsoberhäupter mit Appellen Aserbaidschan davon zu überzeugen versuchen, die Menschen- und Freiheitsrechte der armenischen Bevölkerung in Bergkarabach zu respektieren und vor allem humanitäre Hilfslieferungen durchzulassen. Dies ist zum Teil bereits geschehen. Jedoch kann die EU, und das ist viel wichtiger, indirekt Einfluss nehmen, indem sie zum Beispiel Sanktionen gegen Aserbaidschan verhängt. Solche Forderungen wurden in der Vergangenheit nur sehr vereinzelt und verhalten geäußert, aber die Stimmen werden zahlreicher und lauter. Es sollte, wie jetzt vermehrt gefordert, sehr genau kontrolliert werden, ob das Gas, das im Rahmen des Gasdeals, den die Kommission Mitte 2022 ausgehandelt hat, aus Aserbaidschan geliefert wird beziehungsweise in Zukunft geliefert werden wird, nicht in Wirklichkeit russisches Gas ist. Auch weitere wirtschaftliche Abhängigkeiten gegenüber Aserbaidschan gehören auf den Prüfstand. Die EU (die Bundesregierung eingeschlossen) sollten nicht dabei zusehen, wie ein Präzedenzfall geschaffen wird, indem ein Staat mit Waffengewalt einen Konflikt zu beenden versucht, dessen Lösung eigentlich diplomatischer Mittel bedarf. Sollte dies unsanktioniert bleiben, wäre das ein herber Schlag nicht nur für mehrere Jahrzehnte diplomatischer Bemühungen in der Region, den Glauben an Demokratie und Rechtsstaat in der noch jungen Demokratie Armenien, sondern letztlich vor allem für das Völkerrecht allgemein.

Das Interview basiert auf dem Kenntnisstand vom 25. September 2023.

Nadja Douglas ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt "Konflikt und Kooperation im östlichen Europa (KonKoop)", das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziert wird.

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