Quo vadis, Belarus?

Nationale Identität in Zeiten von Krieg und Repression

Wo
Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS)
Mohrenstraße 60
10117 Berlin
Quo vadis, Belarus?

Nationale Identität in Zeiten von Krieg und Repression

Wo
Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS)
Mohrenstraße 60
10117 Berlin

Mit Nelly Bekus, Aliaksei Bratachkin & Tania Arcimovich

 Auf Englisch und Deutsch mit Simultanübersetzung

Belarus steht derzeit an einem der vielleicht wichtigsten Scheidepunkte seiner jüngeren Geschichte. Fast vier Jahre nach den Protesten von 2020 scheint es, dass die belarusische Gesellschaft zunehmend in mindestens zwei große Lager mit unterschiedlichen Identitätsvorstellungen und Geschichtsnarrativen gespalten ist. Darüber hinaus hat Russlands Krieg in der Ukraine einen allmählichen Verlust der nationalen Souveränität offenbart und eine zunehmende Orientierung an Russland  bewirkt.

Der Prozess der Nationenbildung des Landes in den dreißig Jahren seit der Unabhängigkeit war alles andere als geradlinig. War der Prozess der nationalen Konsolidierung zunächst typisch für Nationen mit sowjetischer Vergangenheit, hat er in Belarus in der postsowjetischen Periode einen besonderen Verlauf genommen, der von einigen Wissenschaftler*innen sogar mit Begriffen wie „verzögert“ oder „verspätet“ beschrieben wird (im Vergleich zu Nachbarstaaten wie Litauen und der Ukraine). Die Konsolidierung  hatte verschiedene Dimensionen: von der Anerkennung der Errungenschaften der Sowjetzeit in der belarusischen nationalen Entwicklung über die faktische Verleugnung einer belarusischen Identität (auch als „nationaler Nihilismus" bezeichnet) bis hin zu einem nationalen Erwachen in Opposition zur sowjetischen Vergangenheit und zur Herausforderung des Lukaschenka-Regimes. Das historische Gedächtnis und die Sprachpolitik haben bei der Verwirklichung der belarusischen Identität immer eine entscheidende Rolle gespielt.

Aktuell ringen Oppositionsgruppen im Exil und die belarusischen Machteliten um die Wiederaneignung des historischen Gedächtnisses und beanspruchen den „belarusischen Nationalismus“ für sich. Das hat weiter zur Vertiefung der Spaltungen beigetragen. Da das Lukaschenka-Regime nach wie vor auf gewaltsame Repressionen zurückgreift, sind Diskussionen über alternative Identitätsvorstellungen innerhalb des Landes unmöglich geworden. Letztlich könnte der fehlende nationale Zusammenhalt sogar zu einem Unsicherheitsfaktor für das Land werden.

Die Podiumsdiskussion wird aus drei Expert*innen belarusischer Herkunft mit unterschiedlichem Hintergrund bestehen. Während der Veranstaltung werden wir sowohl die historische Dimension der belarusischen nationalen Identität als auch ihre aktuellen Auswirkungen diskutieren.

Teilnehmende:

  • Nelly Bekus ist Lehrbeauftragte an der University of Exeter. In ihrer Forschung befasst sie sich mit der Geschichte der postkommunistischen Transformation, Nationenbildungsprozessen, sprachlicher Identität, der Geschichte von kulturellem Erbe und Erinnerung sowie mit Identitätspolitik.
  • Aliaksei Bratachkin ist ein belarusischer Historiker. Von 2013 bis 2021 war er Leiter des Lehrstuhls für Öffentliche Geschichte am unabhängigen European College of Liberal Arts in Belarus (ECLAB), das 2021 vom Staat geschlossen wurde. Seit 2022 ist er wissenschaftlicher Mitarbeitet am Institut für Geschichte an der FernUniversität Hagen. 
  • Tania Arcimovich ist eine Wissenschaftlerin, Autorin und Kuratorin aus Minsk. Zuletzt hat sie ihre Doktorarbeit an der Justus-Liebig-Universität in Gießen verteidigt. Sie war Herausgeberin des pARTisan/pARTisanka Magazine of Belarusian Contemporary Culture und Mitbegründerin des Kaptaruny Art Village in Belarus. 

Moderation: Ingo Petz (Redakteur, dekoder) und Nadja Douglas (Wissenschaftlerin, ZOiS)