Meet the Author | Jannis Panagiotidis

„Unser Migrationsdiskurs fokussiert sich oft auf Probleme“

29.04.2021
Supermarkt mit Waren aus Russland in Berlin. IMAGO / Schöning

Ab den späten 1980ern migrierten Spätaussiedler*innen und Kontingentflüchtlinge nach Deutschland. Jannis Panagiotidis hat mit „Postsowjetische Migration in Deutschland“ erstmals ein Werk vorgelegt, das sich umfassend mit den Besonderheiten der Migration und den entstandenen Lebenswelten auseinandersetzt.

Jannis Panagiotidis

Warum ist das Thema postsowjetische Migration in Deutschland wichtig?

Bei den postsowjetischen Migrant*innen handelt es sich tatsächlich um das größte Migrationskontingent, also die größte Gruppe mit jüngerer Einwanderungsgeschichte, innerhalb der bundesdeutschen Gesellschaft. Es gibt mehr postsowjetische als türkeistämmige Migrant*innen in diesem Land, aber die öffentliche Diskussion vermittelt manchmal einen anderen Eindruck, weil die Migration aus der ehemaligen Sowjetunion weniger Aufmerksamkeit erhält. Sie steht hinter anderen Gruppen zurück, die als problematischer und daher als wichtiger gesehen werden, wie muslimische Migrant*innen, seit 2015 insbesondere auch Flüchtlinge. Das hat damit zu tun, dass unser Migrationsdiskurs sich sehr oft auf Probleme fokussiert, oder auf vermeintliche Probleme. Tatsächlich war es so, dass besonders in den 1990er Jahren auch die postsowjetische Migration und dort vor allem die russlanddeutschen Spätaussiedler*innen ihren Teil an negativer Publicity abbekamen und danach, mehr oder weniger, aus dem öffentlichen Diskurs verschwanden. Und genau deshalb, denke ich, ist es wichtig, jetzt den Faden wieder aufzunehmen und nach 20, 25, 30 Jahren, die diese Menschen im Land sind, eine Zwischenbilanz zu ziehen und jenseits der Probleme von damals zu schauen, wie die Situation ist.

Warum haben Sie sich entschieden, die beiden Gruppen der russlanddeutschen Spätaussiedler*innen und der jüdischen Kontingentflüchtlinge gemeinsam zu behandeln?

Trotz aller signifikanten Unterschiede zwischen den beiden Gruppen ist es erstens so, dass diese Menschen einem gemeinsamen Aushandlungsrahmen in der deutschen Gesellschaft unterliegen. Entsprechend lohnt es, sich anzuschauen, wie sie damit umgehen, beziehungsweise wie mit ihnen umgegangen wird. Und zweitens kamen sowohl Spätaussiedler*innen als auch Kontingentflüchtlinge durch spezielle Migrationsregime ins Land, die sie von anderen Migrant*innen sehr stark unterschieden. Spätaussiedler*innen bekamen vermittelt über ihre deutsche Volkszugehörigkeit die deutsche Staatsangehörigkeit, Kontingentflüchtlinge über ihre jüdische ethnische Zugehörigkeit einen gesicherten Aufenthaltsstatus, was sie gegenüber anderen besserstellte. Die beiden Aufnahmeregime nahmen so Bezug auf ethnische Zugehörigkeit und die Geschichte; es handelt sich um Fälle von Wiedergutmachung durch Migration: im Fall der Russlanddeutschen als Wiedergutmachung für die Verfolgung und Deportation, die sie infolge des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion durch die Sowjets erlitten, und im Fall der jüdischen Kontingentflüchtlinge als Wiedergutmachung für die Shoa.

Trotz gemeinsamer Sprache möchten die postsowjetischen Migrant*innen nicht als „russischsprachige Migrant*innen“ bezeichnet werden. Warum ist der Begriff problematisch?

Das klingt in der Tat paradox, dass Menschen, die objektiv Russisch sprechen, oft nicht als russischsprachig bezeichnet werden wollen. Ein Grund ist, dass im deutschen Aufnahmeregime für die Spätaussiedler*innen ein Gegensatz zwischen deutschem und russischem Kulturkreis konstruiert wurde, vermittelt über die Sprache. Es gab ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, in dem die Richter*innen sagten: „Wer Russisch spricht, gehört dem russischen Kulturkreis an und kann entsprechend kein Deutscher sein.“ Das zielt sehr weit an den Realitäten des Vielvölkerreiches Sowjetunion vorbei, prägte aber die Aufnahmelegitimation in Deutschland und kratzte am Selbstverständnis. Dazu kommt, dass diese Begrifflichkeit von Russischsprecher*innen, Russkogovoryashchiye, in letzter Zeit von russischer Seite instrumentalisiert und eine Art Diaspora konstruiert wird, auf die der russische Staat versucht Einfluss zu nehmen. Davon wollen sich viele distanzieren. Ein dritter Punkt ist, dass in der postsowjetischen Migrationscommunity, gerade bei den Spätaussiedler*innen, zu beobachten ist, dass die russische Sprache an die Folgegeneration gar nicht so stark vermittelt wurde. Zum Teil mangels Gelegenheit, aber auch als bewusste Entscheidung zur sprachlichen Assimilation in Deutschland, wo dann die Kenntnis einer anderen Sprache als hinderlich wahrgenommen wurde.

Was konnten Sie durch die Verwendung statistischer Daten über diese, Sie nennen es ja „privilegierte Gruppe“, von Migrant*innen herausfinden?

Die statischen Methoden erlauben es zu sehen, wie sich die privilegierte Position im Vergleich zu anderen Migrationsgruppen im strukturellen Integrationserfolg auswirkt. Man kann dann verschiedene Migrationskohorten vergleichen und Hypothesen bilden. Wenn wir zum Beispiel sehen, dass die russlanddeutschen Spätaussiedler*innen inzwischen eine der niedrigsten Arbeitslosenquoten haben, dann kann man eben zumindest mutmaßen, dass das mit dem erleichterten Zugang zum Arbeitsmarkt aufgrund ihres gesicherten Status als deutsche Staatsbürger*innen zu tun hatte und dass sich die Integrationsmaßnahmen, die sie erhielten, positiv auswirken. Wobei klar ist, dass man das nicht idealisieren sollte, da man den Zahlen auch entnehmen kann, dass die Beschäftigungsqualität nicht die höchste ist, also, dass viele in eher schlecht bezahlten Jobs arbeiten. 

Daneben kann man die Probleme mit den mitgebrachten Qualifikationen sehen, die sich nicht in den deutschen Arbeitsmarkt übersetzen ließen. Das ist besonders eklatant bei den jüdischen Kontingentflüchtlingen, die eine enorm hochgebildete Migrationskohorte mit einem hohen Akademikeranteil, aber einem vergleichsweise schlechten Arbeitsmarkterfolg sind. Das ist ein immer wiederkehrendes Thema, auch in biographischen Perspektiven auf diese Migration, dass die Menschen ihre Abschlüsse nicht anerkannt bekamen, ihre Leistungen entwertet wurden und sie entsprechend auf Transferleistungen angewiesen blieben und inzwischen im fortgeschrittenen Lebensalter in die Altersarmut fallen. 

Wie wirken sich diese Erfahrungen auf die politischen Einstellungen aus?

Die politischen Einstellungen haben in den letzten Jahren viel Aufmerksamkeit bekommen, weil die Wahrnehmung die Runde machte, dass sich die postsowjetische Community sehr stark nach rechts entwickele. Es gibt tatsächlich einen überproportionalen Anteil von AFD-Wähler*innen innerhalb der postsowjetischen Wählerschaft in Deutschland, das ist also mehr als ein Klischee. Aber es ist gleichzeitig nicht die gesamte Gruppe, sondern der konservative Teil der postsowjetischen Wählerschaft, die in den letzten Jahren weiter nach rechts gerückt ist. Es gibt aber auch einen sehr stabilen Anteil von über 40 Prozent, die links der Mitte wählen, und über die eigentlich nie gesprochen wird. Die Rechtsverschiebung kann verschiedene Ursachen haben, die man noch genauer erforschen muss. Abstiegserfahrungen und -ängste spielen dabei sicherlich genauso eine Rolle wie eine starke identitätspolitische Komponente. Viele sehen sich als weiße, christliche Menschen, die das Label „Migrant*in“ für sich ablehnen und sich daher insbesondere von muslimischen Neuankömmlingen abgrenzen, was einen Schwenk zur politischen Rechten begünstigt.  

Daneben machte sich in Deutschland in Folge des sogenannten „Falls Lisa“ die Sorge breit, dass diese Menschen illoyal würden und der russischen Staatspropaganda ausgesetzt seien. Was das Verhältnis zu Russland betrifft, war für mich die interessanteste Erkenntnis, dass sich eine kremlfreundliche Haltung nicht, wie oft vermutet, bei der älteren Generation, sondern eher bei der mittleren Generation findet, also denen, die als Kinder und Jugendliche nach Deutschland gekommen sind, sowie bei den nachgeholten Großeltern. Das scheint damit zu tun zu haben, ob man sich selber für die Migration nach Deutschland entschieden hat oder mitgenommen wurde.

Das Gespräch führte Elena Goerttler-Reck, Volontärin im Bereich Kommunikation des ZOiS.


apl. Prof. Dr. Jannis Panagiotidis ist stellvertretender Leiter des Forschungszentrums für die Geschichte von Transformationen an der Universität Wien.

Jannis Panagiotidis, "Postsowjetische Migration in Deutschland. Eine Einführung" (2020), Beltz Juventa.