Meet the Author | Paul D’Anieri

"Die russischen Intentionen gegenüber der Ukraine standen lange vor diesen Ereignissen fest"

12.05.2020

In seinem Buch „Ukraine and Russia: From Civilized Divorce to Uncivil War“ untersucht der Politikwissenschaftler Paul D’Anieri, warum der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine eskaliert ist. Im ZOiS-Interview spricht er über die Schuldfrage, die Vermeidbarkeit und die Entscheidungsgewalt von Regierungen. 

Paul D'Anieri

Welche Aspekte des Ukraine-Russland-Konflikts behandeln Sie in ihrem Buch, die von der bisherigen Forschung übersehen worden sind?

Zum einen setzt das Buch mit der Analyse der Geschehnisse bereits beim Ende des Kalten Krieges an und nicht erst bei jüngeren Vorkommnissen, wie der Nato-Expansion oder der Anerkennung des Kosovo. Ich möchte zeigen, dass die russischen Intentionen gegenüber der Ukraine lange vor diesen Ereignissen feststanden. Zum anderen beziehe ich die internationale Konfliktforschung ein, die von den meisten Publikationen zum Ukraine-Konflikt außer Acht gelassen wird. Ein Beispiel dafür und ein wichtiger Faktor ist das Security-Dilemma. Diese Theorie beschreibt die Herausforderung eines Staates, die eigene Sicherheit zu gewährleisten, ohne das Sicherheitsempfinden anderer Staaten dabei zu beschädigen.

Der zweite große Aspekt, auf den sich das Buch konzentriert, ist die Rolle der Demokratie. Ich argumentiere, dass die geopolitische Ausbreitung der Demokratie in Europa kontinuierlich die politische Landschaft verändert hat, was von russischer Seite als Bedrohung wahrgenommen wurde. Die Tatsache, dass bereits die allgemeine Verbreitung demokratischer Verhältnisse Russland in Bedrängnis brachte, wird immer wieder übersehen.

Der dritte Pfeiler bezieht sich auf die Auswirkungen der Innenpolitik. Ich möchte betonen, dass in allen beteiligten Ländern innenpolitische Gründe vorlagen, warum eine Beschleunigung des Konflikts sich eher anbot, als Schritte zu unternehmen, die zu einer Deeskalation geführt hätten.

Im Buch distanzieren Sie sich vom “Krieg der Schuld“ (Battle of Blame). Was meinen Sie damit?

Ein Großteil der Literatur befasst sich mit der Frage nach Schuld, insbesondere die Publikationen, die in den ersten Jahren nach Ausbruch des Konflikts herauskamen. Meistens wird Russland entweder als Aggressor oder als Opfer westlicher Aggression dargestellt. Unabhängig von der gewählten Variante führt die Schuldfrage zu einer eindimensionalen Erklärung des Konflikts. In dieses Muster passt auch die Annahme, dass für die Akteure des Konflikts eine einfache Möglichkeit bestanden hätte, sich anders zu verhalten, als sie es getan haben. Und das obwohl uns die Geschichte und die Literatur der internationalen Beziehungen zeigen, dass die souveräne Entscheidungsfähigkeit nationaler Machthaber*innen meistens stark begrenzt ist. Das Security Dilemma können sie nicht alleine lösen. Das liegt außerhalb ihrer Kontrolle. Zusammengefasst möchte ich hervorheben, dass die Gründe für den Ukraine-Konflikt tiefer liegen als Schuldzuweisungen an einzelne Machthaber*innen greifen würden.

Können Sie unter Berücksichtigung der politischen und soziologischen Entwicklungen, die dem Krieg vorhergingen, einen „Point of no Return“ identifizieren?

Die kurze Antwort ist nein, aber lassen Sie mich das spezifischer ausführen: Bis Putin seine kleinen grünen Männchen auf die Krim und in die Ostukraine geschickt hat, gab es keinen „Point of no Return“. Auf das, was 2014 in Kiew passiert ist, hätte er genauso reagieren können, wie er 2004 auf die Orangene Revolution reagiert hat. Nämlich, indem man sich gesagt hätte: „Wir haben eine Schlacht verloren, aber führen den Kampf weiter.“ Ohne die Metapher: Wir werden weiterhin unseren Einfluss in der und auf die Ukraine ausweiten. Nach der Orangenen Revolution 2004 war Russland sehr erfolgreich damit. In diesem Sinne war die Eskalation des Konflikts nicht unvermeidbar. Selbst die Rebellion in der Ostukraine hätte trotz der Unterstützung vom russischen Geheimdienst im Sommer 2014 noch von der ukrainischen Armee niedergeschlagen werden können. Das hätte ein Ende des Konflikts bedeuten können, hätte Putin im Juli 2014 nicht seine Armee ausgesendet.

Sie erwähnen das Referendum zur Unabhängigkeit der Ukraine im Jahr 1991 und zeigen, dass damals 92,3 Prozent der ukrainischen Bürger*innen für die Unabhängigkeit gestimmt haben, inklusive der Oblasten Donetsk und Luhansk, wo insgesamt 83,9 Prozent der Bürger*innen im Sinne der Unabhängigkeit gestimmt haben. Können Sie uns den Stimmungswechsel in diesen Regionen erklären?

Ich würde gar nicht mit Sicherheit behaupten, dass es einen Stimmungswechsel gegeben hat. Es stimmt, dass 1991 über 80 Prozent der Menschen in Donetsk und Luhansk für die Unabhängigkeit der Ukraine gestimmt haben. Übrigens auch über 50 Prozent auf der Krim. Das Problem ist, dass wir heutzutage keine wirklich verlässlichen Daten aus diesen Regionen bekommen. Ich bin der Meinung, dass wenn wir diese Daten hätten, sie in der Tat den Wunsch einer unabhängigen Ukraine in der Bevölkerung auch dieser Regionen ausdrücken würden. Allerdings einer unabhängigen Ukraine, die enge kulturelle und wirtschaftliche Verbindungen zu Russland unterhält. Das ist ein Punkt, der immer missverstanden wurde: Der unterstellte Wunsch, sich abzukapseln und Russland anzugehören ist nicht identisch mit dem mehr oder weniger verbreiteten Wunsch, engere wirtschaftliche Verknüpfungen mit Russland zu pflegen.

Im Fazit Ihres Buches schreiben Sie: “Vom Kalten Krieg zum Kalten Krieg”. Wenn wir bei dieser Terminologie bleiben wie viel „Stellvertreterkrieg“ steckt in diesem Konflikt?

Bestimmt ist der Krieg in der Ostukraine in hohem Maße als Stellvertreterkrieg zu bezeichnen. In gewisser Weise geht dieser Krieg sogar über einen gemeinen Stellvertreterkrieg hinaus, betrachtet man die erhebliche Militärpräsenz Russlands in der Ukraine. Ich glaube nicht, dass die Rebellen in Luhansk und Donetsk ohne die militärische und wirtschaftliche Unterstützung Russlands erfolgreich gewesen wären.

Das Gespräch führte Katharina Angus, Volontärin im Bereich Kommunikation des ZOiS.


Paul D’Anieri ist Professor für Politikwissenschaft an der University of California, Riverside. Er hat sich auf internationale Beziehungen in der früheren Sowjetunion spezialisiert, mit einem Schwerpunkt der Ukraine und Russland.

Paul D’Anieri (2019): Ukraine and Russia: From Civilized Divorce to Uncivil War, Camebridge University Press.