Meet the Author | Michael Kimmage

„Die Geschichte der westlichen Abschreckungsversuche gegenüber Russland ist eine Geschichte des Scheiterns“

23.05.2024
Ukrainische Soldaten in Orikhiv nach russischem Beschuss, Region Saporischschja, Mai 2024 © IMAGO / ABACAPRESS

Warum ist der Titel Ihres Buches über den Ukrainekrieg „Kollisionen“ und nicht „Kollision“?

Das Wort Kollision impliziert zu Recht, dass es sich um einen Krieg zwischen Russland und der Ukraine handelt. Das ist die grundlegende Wahrheit dieses Krieges, das Framing Russland-Ukraine ist aber nicht das einzige, das uns hilft, den Krieg seinen Ursprüngen und seinem Wesen nach zu verstehen. Entscheidend ist es, den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine in einen größeren Konflikt zwischen Russland und Europa einzuordnen. Teilweise geht es dabei um die europäischen Ambitionen der Ukraine. Es geht jedoch auch um Russlands Verständnis davon, wo es selbst in die europäische Sicherheitsarchitektur passt und wo nicht. Die finanzielle und militärische Hilfe, welche die Ukraine während des Kriegs von verschiedenen europäischen Ländern erhalten hat, ist natürlich von entscheidender Bedeutung gewesen.

Genauso wichtig ist die Kollision zwischen Russland und den Vereinigten Staaten. Schaut man sich die Rhetorik des Kremls an, dann spricht er häufig von einem umfassenderen Krieg zwischen Russland und den Vereinigten Staaten. Die Vereinigten Staaten sind tief in das Projekt involviert, der Ukraine überleben zu helfen. Drei oder vier Monate vor Kriegsbeginn teilten die Vereinigten Staaten geheimdienstliche Informationen mit der Ukraine und verstärkten ihre Militärhilfen. Während der Krieg weiter voranschritt, sind die Vereinigten Staaten ein unerlässlicher Bestandteil sowohl der militärischen Infrastruktur der Ukraine als auch der diplomatischen Struktur jener Länder gewesen, die Sanktionen gegen Russland erlassen haben und die Ukraine unterstützen. In all diesen Hinsichten gibt es nicht nur eine, sondern gleich mehrere Kollisionen, und als Menschen, die diesen Krieg erforschen, müssen wir unser Bestes tun, sie zu entwirren.

Sie sprechen in Ihrem Buch von einer „gescheiterten Abschreckung“. Inwiefern war die westliche Politik gegenüber der Ukraine letztlich ein Faktor in Putins Entscheidung, einen umfassenden Krieg gegen die Ukraine zu beginnen?

Es ist schwierig, 2014 von Abschreckung zu sprechen. Ich denke nicht, dass irgendjemand zunächst einmal die Maidan-Revolution und dann die Annexion der Krim vorhergesehen hatte. Die Annexion der Krim geschah so schnell und unerwartet, dass überhaupt kein Versuch gemacht wurde, Russland abzuschrecken. Etwas anderes ließe sich über Russlands Einfall in den Donbas (in der Ostukraine) 2014 und 2015 sagen, aber auch dieser Einfall vollzog sich unter verwirrenden Umständen und es wurde sehr wenig getan, um Russland abzuschrecken. Es gab Bemühungen, Russland mithilfe von Sanktionen zu bestrafen, Abschreckung war im Frühjahr 2014 jedoch weder das Ziel Deutschlands noch Europas oder des Westens. Im Gegensatz dazu war Abschreckung 2021 und 2022 sehr wohl ein erklärtes Ziel, jedenfalls aus Sicht der Vereinigten Staaten; ich kann in dieser Hinsicht nicht für alle europäischen Staaten sprechen. Washington hatte die Hoffnung, dass die Androhung wirtschaftlicher Sanktionen oder Hilfszusagen an die Ukraine Russland von seinem Kurs abbringen würden. Das ist komplett gescheitert.

Alles in allem ist die Geschichte westlicher Abschreckungsversuche gegenüber Russland eine Geschichte des Scheiterns, und jetzt ist es zu spät. Von einer Abschreckung Russlands kann keine Rede mehr sein: Der Krieg befindet sich in seinem dritten Jahr und militärisch macht Russland in der Ukraine aktuell Fortschritte. Im Gegensatz dazu ist es möglich, von einer Eindämmung Russlands zu sprechen. Es ist sehr wichtig zu verstehen, was in den letzten zehn Jahren passiert ist. In Zukunft werden unsere politischen Maßnahmen nur dann Erfolg haben, wenn wir erkennen, wo in der Vergangenheit Fehler gemacht wurden. Eine der zentralen Fragen in Bezug auf Russlands Krieg gegen die Ukraine, von 2014 bis 2024, ist die Frage der fehlenden Abschreckung.

An einer Stelle schreiben Sie, dass nichts am 2022 ausgebrochenen Krieg „kalt“ sei. Was unterscheidet ihn vom Kalten Krieg?

Nicht alles. Es gibt einige Konflikte während des Kalten Kriegs, die grob dem Krieg in der Ukraine ähneln. Der Vietnamkrieg ist wahrscheinlich das beste Beispiel. China und die Sowjetunion unterstützten Nordvietnam, während die Vereinigten Staaten im Süden unmittelbar am Krieg beteiligt waren. Der Kalte Krieg und die Situation heute unterscheiden sich jedoch durch die Art der Unterstützung, die Europa und die Vereinigten Staaten der Ukraine liefern. Diese Unterstützung ist viel unmittelbarer, offener und dynamischer als in jedem vergleichbaren Konflikt während des Kalten Kriegs. Es stimmt zwar, dass es keine uniformierten amerikanischen oder deutschen Soldat*innen in der Ukraine gibt. Die Zusammenarbeit zwischen dem Westen und der Ukraine sowie die Qualität der militärischen Unterstützung gehen jedoch weit über vergleichbare Fälle aus dem Kalten Krieg in Europa hinaus.

Der gegenwärtige Krieg ist ein dynamischer, fluider Konflikt innerhalb Europas. Russische Raketen sind in den rumänischen und polnischen Luftraum eingedrungen. Fluchtbewegungen machen deutlich, wie durchlässig die Grenzen zwischen diesem Krieg und der übrigen europäischen Landschaft sind. Diese Art von Dynamik ist aus Kalten Krieg in Europa nicht bekannt. Obwohl der Kalte Krieg in Europa unglaublich angespannt und gefährlich war, lag Europa – mit der Ausnahme der sowjetischen Einmärsche in Ungarn und der Tschechoslowakei –abseits der unmittelbaren Kampfhandlungen des Kalten Kriegs. Traurigerweise ist dies nicht mehr der Fall. 

Hinzu kommt, dass es im Kalten Krieg ab den späten 1950er-Jahren zahlreiche diplomatische Bemühungen gab. Als Anker diente dabei die Frage der Rüstungskontrolle. Es herrschte der Glauben, dass technische Expertise, Verhandlungen, Diplomatie und ein gewisses Maß an Dialog und gegenseitigem Verständnis notwendig seien, um die schlimmsten Szenarien zu verhindern. Obwohl im Westen immer noch Interesse daran besteht, lehnt Russland es offensichtlich ab, den Krieg zu begrenzen. Russland hat in seinem Krieg gegen die Ukraine (und andere Staaten) auch eine Art von nuklearer Rhetorik verwendet, von der es im Kalten Krieg nie Gebrauch gemacht hat. Es kann den Anschein haben, dass für Moskau verschiedene nukleare Optionen auf dem Tisch liegen. Ob das stimmt oder nicht, weiß niemand so wirklich, es versetzt uns in aber in eine Welt, die unsicherer und ungehemmter ist als die unheilvolle und angespannte Welt des Kalten Krieges.

Seit Februar 2022 steht die Westorientierung der Ukraine außer Zweifel, eine Mitgliedschaft in der NATO oder der EU ist jedoch in absehbarer Zukunft unwahrscheinlich. Welche anderen Formen könnte eine Integration der Ukraine noch annehmen?

Was die Ukraine angeht, leiden sowohl die NATO als auch die EU darunter, binäre Institutionen zu sein. Entweder bist du Mitglied oder eben nicht. Es gab in der Vergangenheit einige Bemühungen, die NATO in dieser Hinsicht zu verändern, allerdings bleibt die Beistandsverpflichtung nach Artikel 5 wesentlich, und diese ist entweder vorhanden oder eben nicht. Die Ukraine mag zwar irgendwann EU-Mitglied werden, ich glaube aber, dass das ziemlich langsam passieren wird. Es ist daher von entscheidender Bedeutung, neue Formen der Zugehörigkeit zu schaffen, eventuell eigens auf die Ukraine zugeschnittene, die einerseits die Aufnahme in die EU beschleunigen, andererseits aber auch stückchenweise bereits einige der Vorteile bringen würden, die eine EU-Mitgliedschaft bietet. Nicht alles auf einmal, sondern Schritt für Schritt. Das ist für die Europäische Union vernünftig und könnte die Moral der Ukraine stärken. Am Ende des Krieges wird sie Teil des Klubs sein.

Ich glaube, dass Ähnliches über die NATO gesagt werden könnte. Wir wissen nicht, was nach den US-Präsidentschaftswahlen passieren wird, ein Präsident Trump wäre jedoch weniger offen für eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine als ein Präsident Biden. Präsident Biden hat klipp und klar gesagt, dass eine Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO unmöglich ist, bis der Krieg vorbei ist, was jedoch nicht bedeutet, dass die Mitgliedsstaaten der NATO der Ukraine keine Sicherheitsgarantien oder Hilfszusagen bieten können. Einige, wie das Vereinigte Königreich, haben dies bereits getan. Man kann von so einem flexibleren Muster ausgehen und verschiedene Wege erkunden, wie die Ukraine in Teilen integriert werden kann, bevor eine vollständige Integration geschieht.

Nach monatelangem Ringen um das 60 Milliarden Dollar schwere US-Hilfspaket für die Ukraine hat das Repräsentantenhaus den Entwurf Mitte April endlich verabschiedet. Macht Sie das zuversichtlich, dass die USA ihren Kurs gegenüber der Ukraine beibehalten werden?

Nein, ich glaube nicht, dass es möglich ist, diese Schlussfolgerung aus den letzten sechs oder sieben Monaten zu ziehen. Seit dem ersten Kriegsjahr ist der Konsens hinsichtlich des Engagements für die Ukraine stetig gesunken. Es gibt allerdings ein Szenario, in dem dies nicht so bleiben würde, und zwar wenn Präsident Biden wiedergewählt werden sollte und die Demokrat*innen sowohl das Repräsentantenhaus als auch den Senat, zumindest aber das Repräsentantenhaus, unter ihre Kontrolle bringen würden. In diesem Fall wäre es ein Leichtes für die Exekutive und Legislative, Hand in Hand an der Unterstützung der Ukraine zu arbeiten. Im Moment ist das aber alles andere als garantiert.

Meiner Ansicht nach hat der Kongress die richtige Entscheidung getroffen. Leider hat das Repräsentantenhaus sehr lange für diese Entscheidung gebraucht, und obwohl das Gesetz es in das Repräsentantenhaus geschafft hat und dort angenommen wurde, haben mehr als die Hälfte der Republikaner*innen dagegen gestimmt. Selbst wenn Trump verliert, selbst wenn die Demokrat*innen 2024 ein gutes Jahr haben, wird die Hälfte der Republikanischen Partei oder mehr mit der Unterstützung der Ukraine nicht einverstanden sein. Eine solche Polarisierung der Parteien im Hinblick auf ein Kernthema amerikanischer Außenpolitik wäre während des Kalten Kriegs hochgradig ungewöhnlich gewesen. Es gab in der amerikanischen Innenpolitik viel Streit und Auseinandersetzungen um den Kalten Krieg, der grundlegende Konsens innerhalb der Legislative und Exekutive, dass die Sowjetunion eingehegt werden müsse, war jedoch stabil. Die politische Landschaft ist heute anders. Das stimmt mich nicht pessimistisch. Es bedeutet einfach nur, dass die Unterstützer*innen der Ukraine sich innerhalb des amerikanischen politischen Systems zurechtfinden und sich gründlich und strategisch Gedanken über die amerikanische Innenpolitik machen müssen, um zu bekommen, was sie wollen.

Das Gespräch führte Anne Boden, Redakteurin am ZOiS.


Michael Kimmage ist Professor für Geschichte an der Catholic University of America. Er ist außerdem Fellow des German Marshall Fund.

Kimmage, Michael: Collisions: The Origins of the War in Ukraine and the New Global Instability. Oxford University Press, 2024.