Meet the Author | Alicja Curanović

„Der russische Messianismus beinhaltet ein gegenhegemoniales Narrativ: Russland als Underdog“

16.12.2021
Patriarch Kirill und Präsident Putin bei der Eröffnung des Alexander Nevski Denkmals Alexander Demianchuk/TASS

In ihrem neuen Buch „The Sense of Mission in Russian Foreign Policy” untersucht Alicja Curanović den Einfluss des Messianismus und missionarischer Narrative auf die russische Außenpolitik. Anhand einer Analyse von 25.000 Dokumenten beschreibt sie 15 missionarische Rollen, die Russlands Eliten dem Land zuschreiben.

Wie unterscheidet sich Ihre Herangehensweise an den Messianismus von der anderer Wissenschaftler*innen?

Zunächst einmal müssen wir uns den Begriff des Messianismus [1] genauer anschauen. Ursprünglich beschreibt er ein religiöses Phänomen, findet jedoch auch im politischen Kontext Verwendung, insbesondere im Fall Russlands, wo er Teil der nationalen Kultur ist. Die Bücher, die ich über den russischen Messianismus gelesen habe, behandeln ihn alle als ein spezifisch russisches Phänomen. Da ich aus dem Bereich der Internationalen Beziehungen komme, war ich jedoch nicht nur am Messianismus als einem Aspekt der Innenpolitik interessiert, sondern auch daran, wie er mit internationalen Dynamiken zusammenhängt. Natürlich bezweifelte ich, dass Messianismus ausschließlich in Russland vorkommen würde. Es gibt Bücher, die zeigen, welche Rolle er auch in der amerikanischen Politik spielt. Einer verbreiteten Ansicht zufolge sind aber manche Nationen, unter anderem Russland und Polen, traditionell messianistisch geprägt. Ich dachte, dass man irgendeinen Weg finden müsse, über den Messianismus als ein universelles Phänomen nachzudenken. Deshalb betrachte ich ihn nicht nur als ein kulturell verwurzeltes Phänomen, sondern möchte außerdem zeigen, wie er Staaten dazu dient, ihren Status auf der internationalen Bühne zu erhöhen. Er ist ein Mittel, mithilfe dessen Staaten sich ontologische Sicherheit verschaffen und innerhalb der internationalen Arena eine kohärente Identität bewahren können.

Was ist das Einzigartige am missionarischen Bewusstsein Russlands?

Ich habe mir den Zusammenhang zwischen der Art, wie ein Staat über seine Mission in der Welt spricht, und seiner Position innerhalb der internationalen Hierarchie angeschaut. Wenn dominante Staaten von ihrer Mission sprechen, dann tun sie das, um ihre dominante Position zu legitimieren. In diesem Fall dreht sich ihre Mission oft darum, in die Welt hinauszuziehen und sie nach dem eigenen Bild zu formen, zum Beispiel durch die Verbreitung von Freiheit und demokratischen Ideen.

Russlands außenpolitischer Messianismus ist anders. Wenn Russland darüber spricht, welche Mission es in den Ländern seiner unmittelbaren, von ihm dominierten Nachbarschaft verfolgt, dann soll damit natürlich diese Dominanz legitimiert werden. Daneben gibt es jedoch auch noch ein gegenhegemoniales Narrativ, dem zufolge Russlands Mission darin liegt, den Druck zu verringern, den der Westen auf das Land ausübt. Zu den Motiven hinter dieser Mission sagt Russland: „Unsere Wirtschaft mag nicht so gut sein wie eure, wir mögen technologisch nicht so weit fortgeschritten sein wie ihr, aber moralisch sind wir euch überlegen. Und wir haben eine große historische Mission zu erfüllen, weshalb wir mit euch auf einer Ebene stehen.“

Ein zweiter Unterschied liegt darin, dass die zentrale Idee, die dem russischen Missionsgedankens zugrunde liegt, nicht die Freiheit, sondern die Gerechtigkeit ist. Es geht darum, für Gerechtigkeit zu sorgen und die Welt vor dem Bösen zu beschützen An dieser Betonung der Gerechtigkeit zeigt sich, dass der russische Messianismus ein gegenhegemoniales Narrativ beinhaltet: Russland als Underdog. Als solcher versucht Russland, sich und andere Nationen vor dem Druck zu schützen, den mächtigere, die normative Ordnung dominierende Länder auf sie ausüben.

Interessanterweise stellte der sowjetische Messianismus innerhalb der messianistischen Tradition Russlands eine Ausnahme dar. Er ähnelte viel stärker dem westlichen Modell. Es ging darum, die Dominanz der Sowjetunion zu legitimieren und die Welt nach ihrem Vorbild umzugestalten, wie es zum Beispiel im Ostblock geschah. Und im Gegensatz zur vorsowjetischen Tradition des Messianismus fehlte die Vorstellung einer „Automission“, also die Überzeugung, als Land eine besondere Rolle zu spielen, sich jedoch, um die Welt retten zu können, zunächst selbst retten zu müssen, vor welchen Gefahren auch immer. Im russischen Messianismus geht es darum, die russische Zivilisation zu bewahren, wozu das Land sich zuweilen in die Isolation begeben müsse, um zuerst seine Seele – und dann später die Welt – zu retten.

Die Autorin Alicja Curanović mit ihrem Buch Alicja Curanović

Haben die russischen Eliten eine andere Vorstellung von der Mission ihres Landes als die gewöhnlichen Bürger*innen?

Für beide Gruppen gibt es einen gemeinsamen Nenner, nämlich die feste Überzeugung, dass Russland eine Großmacht ist und bleiben soll. Unterschiedlich wird jedoch die Frage beantwortet, ob Russland, um Großmacht zu sein, eine Mission in der Welt verfolgen müsse. Die russischen Eliten betonen sehr oft, dass das russische Volk ein missionarisches Bewusstsein bräuchte, um sich gut zu fühlen. Fragen Sie aber gewöhnliche Russ*innen, dann werden sie Ihnen sagen: „Ja, wir wollen, dass Russland eine Großmacht ist, aber uns wäre es lieber, diesen Status durch innere Reformen zu erreichen und aufrechtzuerhalten, und nicht so sehr dadurch, dass wir innerhalb der internationalen Arena im großen Maßstab irgendeine Mission verfolgen.“ Den einfachen Menschen ist Russlands Großmachtstatus wichtig, sie glauben jedoch, dass er auf den innenpolitischen Leistungen des Landes beruhen sollte. Sie wollen in einem wohlhabenden Land leben. Wenn die Mission bedeutet, den Gürtel enger schnallen zu müssen, dann wollen gewöhnliche Russ*innen das nicht. Es sind die Eliten, die in außenpolitischen Begriffen über Russlands Mission sprechen. Sie glauben, eine wahre Großmacht müsse eine Mission besitzen, die über ihre eigenen Grenzen hinausgeht. Den Eliten dient dieser Diskurs als ein Mittel der Selbstbestätigung, das ihnen hilft, die eigenen Reihen geschlossen zu halten oder die kollektive Identität zu stärken.

Die Idee der Gerechtigkeit hat das Potential, gewöhnliche Russ*innen und die Eliten wieder zusammenbringen. Meinungsumfragen und Feldforschungen in Russland zeigen, dass sie für gewöhnliche Russ*innen weiterhin eine hohe Bedeutung hat, gerade weil sie in ihrer Heimat einen Mangel an sozialer Gerechtigkeit und Gerechtigkeit im Allgemeinen wahrnehmen. Diese Idee außenpolitisch zu nutzen, könnte eine Möglichkeit sein, mehr Menschen für das messianische Narrativ zu gewinnen.

Welche Rolle spielen Religion, Identität und Politik im russischen Missionsverständnis?

Die Russisch-Orthodoxe Kirche redet am offensten über die Mission Russlands im 21. Jahrhundert. Aber auch sie spricht von einer Mission des Staates, nicht der Kirche. Darin liegt ein sehr wichtiger Unterschied zum russischen Messianismus des 19. Jahrhunderts. Damals wurde die Verantwortung für die besondere Mission des Landes bei drei Hauptakteuren gesehen: der Nation, der Kirche und dem Staat. Nach der sowjetischen Säkularisierungserfahrung ist Russland heutzutage ein säkularer Staat. Selbst im Narrativ der Kirche ist es der Staat, der Russlands Mission erfüllen soll. Dieses Narrativ hat ein sakrales Element.

In Russland gibt es das Selbstbild, ein bedeutendes Land zu sein, das seit seinen ersten Anfängen in der Zeit der Kiewer Rus eine wichtige Rolle in der Geschichte der Menschheit gespielt hat. Dieses Selbstbild ist eine Konstante der russischen Geschichte, auch wenn die Mission selbst und die Russland zugeschriebenen Rollen sich ändern. Zu einem gewissen Grad findet sich dieses Narrativ im politischen Diskurs wieder. Vor allem prägt es aber den öffentlichen Diskurs in Russland. Über die Mission des Landes zu sprechen, dient als Bestätigung, dass es sich beim heutigen Russland um das wahre Russland handelt. Für das russische Verständnis der eigenen Rolle in der Welt ist es auf jeden Fall von zentraler Bedeutung: Dieses Land ist eine Großmacht. Es war eine Großmacht und soll eine Großmacht bleiben. Nur so ist es das wahre Russland, das die eigentliche russische Identität bewahrt.

Sie haben in Ihrem Buch 15 missionarische Rollen identifiziert. Könnten Sie ein paar von ihnen nennen, die für Russland spezifisch sind, und sagen, was an ihnen besonders ist?

Diese fünfzehn Rollen wurden Russland von den Eliten zugeschrieben. An den meisten von ihnen ist interessant, dass sie bereits im russischen Messianismus des 19. Jahrhunderts zu finden sind. Man könnte sagen, dass sich die Russland zugeschriebenen missionarischen Rollen im Wesentlichen nicht verändert haben. Dennoch sind drei von ihnen komplett neu. Eine davon ist die der Versorgerin, die Russlands einzigartige Rolle bei der weltweiten Nahrungsmittelsicherung betont. Allerdings taucht sie in den 25.000 Dokumenten, die ich analysiert habe, lediglich drei oder vier Mal auf. Die anderen beiden neuen Rollen stehen in direktem Zusammenhang mit der Macht, die die Sowjetunion besaß. Die Erste dreht sich um Russland als Schöpferin der Russkij Mir [der „russischen Welt“], die mit dem Aufkommen einer russischen Diaspora außerhalb der Grenzen der Russischen Föderation entstanden ist. Die Zweite sieht Russland als Wächterin der historischen Wahrheit. Dabei geht es darum, angesichts von Fälschungsversuchen die wahre Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg wachzuhalten.  

Es gibt also drei neue Rollen. Alle anderen waren bereits im 19. Jahrhundert vorgeprägt. Müsste ich drei Rollen nennen, die den Kern des messianischen Denkens in Russland ausmachen, würde ich die der Hüterin der Gerechtigkeit, die eng mit der politischen Position Russlands verbundene Rolle der Gleichgewichtsstifterin und die Rolle des Schildes nennen, der zufolge Russland dazu bestimmt ist, diejenige Großmacht zu sein, die die Welt vor dem Bösen bewahrt. Andere Rollen wie die der Verteidigerin des Glaubens und der Werte und der Familienpatronin betonen einen engen Bund zwischen Russland und anderen slawischen und christlich-orthodoxen Nationen sowie Christ*innen im Allgemeinen.

Das Gespräch führte Elena Goerttler-Reck, Volontärin in der Kommunikationsabteilung des ZOiS.


Alicja Curanović ist Politikwissenschaftlerin und assoziierte Professorin an der Fakultät für Politikwissenschaften und  Internationale Beziehungen der Universität Warschau.

Alicja Curanović: The Sense of Mission in Russian Foreign Policy. Destined for Greatness! Routledge, 2021.

[1] Einfach ausgedrückt umfasst der Messianismus eine Reihe von Vorstellungen, denen die Annahme zugrunde liegt, dass die Menschheitsgeschichte danach strebt, ein bestimmtes Ideal zu verwirklichen und damit einen Plan der Vorsehung zu erfüllen. In diesem Plan spielt der oder die „Auserwählte“ eine besondere Rolle („Mission“). Dabei kann es sich sowohl um ein Individuum als auch ein Kollektiv handeln. Es wurde vielfach versucht, die Begriffe des Messianismus und der Mission sowie des religiösen und säkularen Messianismus zu definieren und voneinander abzugrenzen. Dieser Unmenge terminologischer Ansätze lassen sich anhand der relevanten Literatur drei Kernelemente des Messianismus entnehmen: (1) eine Vorstellung der Geschichte als einem linearen, teleologischen Prozess, (2) der Universalismus und (3) der Missionsgedanke. Für die Außenpolitik ist der Missionsgedanke am wichtigsten. In ihm drückt sich die Forderung aus, die Welt der messianischen Idee gemäß umzugestalten. Für meine Forschung ist er deshalb von zentraler Bedeutung. Unter dem Begriff der Mission verstehe ich die Überzeugung, dass eine bestimmte Gemeinschaft (ein Staat oder eine Nation) eine geschichtliche Sonderstellung einnimmt, die sich in einem besonderen, für sie vorgesehenen Schicksal manifestiert. Der Gedanke der „Mission“ enthält drei unterschiedliche, aber miteinander zusammenhängende Elemente: (1) die Überzeugung, ein besonderes Schicksal zu besitzen, (2) ein Gefühl der moralischen Überlegenheit und (3) die Überzeugung, dass das staatliche Handeln nicht bloß durch das eigene nationale Interesse bestimmt wird, sondern einem höheren Zweck unterliegt, der für eine größere (regionale, globale etc.) Gemeinschaft von Menschen von Bedeutung ist. Ein „Missionsnarrativ“ ist ein Narrativ, das direkte Bezüge auf den Missionsgedanken oder irgendeins der drei oben genannten Elemente enthält. Diese begriffliche Herangehensweise an den Missionsgedanken ermöglicht es, in der hochregulierten, säkularen Sprache der modernen Diplomatie messianische Motive ausfindig zu machen.