Meet the Author | Andrew Wilson

„Lukaschenkas Schicksal hängt nun von Russland ab”

17.08.2021
Polizisten in Minsk während Demonstrationen nach den belarusischen Präsidentschaftswahlen 2020. IMAGO / ITAR-TASS

In der zweiten Ausgabe seines Buchs „Belarus: The Last European Dictatorship“ beschreibt Andrew Wilson das Aufkommen der belarusischen Nation, wie das Regime Lukaschenka entstand und mit welchen Herausforderungen es konfrontiert ist. Er fokussiert sich vor allem auf die Auswirkungen der Präsidentschaftswahl 2020.

Andrew Wilson ECFR

Bereits in der ersten Ausgabe Ihres Buchs von 2011 diagnostizierten Sie, dass sich das Regime von Lukaschenka in der Krise befinde.  Wie hat er es geschafft, weiter an der Macht zu bleiben?

Nach seinem Wahlsieg 1994 konnte Lukaschenka sich an der Macht halten, weil sein populistischer Stil für viele Belarus*innen tatsächlich eine gewisse Attraktivität besaß; es herrschte eine weitverbreitete, postsowjetische Nostalgie, Lukaschenka bot den Menschen, was wir als populistisch-autoritäre öffentliche Güter bezeichnen könnten, zum Beispiel Recht und Ordnung, ein geringes Maß an Oligarchie, während weite Teile der kollektivistisch-sozialistischen Wirtschaft intakt blieben. In den später 1990er- und frühen Nullerjahren schlug sich die belarusische Wirtschaft ziemlich gut. Nach der Weltwirtschaftskrise 2008 konnte sie sich jedoch allein nicht mehr über Wasser halten. Sie lebte von russischen Subventionen.

Um die Rechnungen zu bezahlen, wurde der Staatssektor verschlankt und der Privatsektor gefördert. Dadurch veränderte sich Belarus im Laufe des darauffolgenden Jahrzehnts erheblich. Die Bedingungen, die Lukaschenka in den 1990ern an die Macht gebracht hatten, waren nicht von Dauer. Durch das Wachstum des Privatsektors entstand eine größere Mittelschicht, und die Urbanisierung des Landes schritt voran. Bei den Protesten 2020 kamen viele der Demonstrant*innen aus dieser neuen Mittelschicht.

Ohne eine tragfähige wirtschaftliche Strategie ist das Überleben des Regimes gefährdet. Länder können eine lange Zeit ohne eine solche Strategie überleben, früher oder später wird es ohne sie aber schwierig. Momentan entwickelt Belarus sich zu einem wirtschaftlich dysfunktionalen Staat an den Grenzen Europas, der in hohem Maße auf Repressionen zurückgreift und von russischer Unterstützung abhängig ist – das ist alles andere als ein gesundes Szenario.

In welchem Ausmaß beeinflusste die westliche Außenpolitik gegenüber Belarus die Entwicklung von Lukaschenkas Regime – wenn überhaupt?

Im Zuge der Annexion der Krim und des russischen Kriegs gegen die Ukraine 2014 befand sich Belarus potenziell in einer ähnlichen Situation wie die Ukraine. Lukaschenka konnte es so darstellen, als sei sein Überleben Ausdruck einer gestärkten Souveränität des Staates. Um in der immer schwierigeren Beziehung zu seinem wichtigsten Partner Russland über mehr Souveränität und Kontrolle zu verfügen, war Lukaschenka darauf angewiesen, seine Außenpolitik durch Kontakte mit der EU und den Vereinigten Staaten zu diversifizieren. Dabei handelte es sich jedoch nie um einen „Balanceakt“, als befände sich Belarus auf halbem Weg zwischen Russland und dem Westen. Zwischen 2014 und 2020 war der Westen in diesem Prozess keine treibende Kraft. Nichtsdestotrotz gab es für ihn Gelegenheiten, sein traditionell begrenztes Engagement zu erhöhen. Mit der Zeit hätte dieser Prozess dem Westen eine stärkere Anbindung und mehr Einfluss in Belarus ermöglicht; nun ist er jedoch faktisch zu Ende. Lukaschenka ist damit auf seine primäre Beziehung zu Russland zurückgeworfen, über die er jedoch immer weniger Kontrolle hat, da seine anderen Optionen mittlerweile geschrumpft sind.

Sie vergleichen das heutige Belarus mit dem Polen der 1980er-Jahre, als der Staat die Solidarność-Bewegung unterdrückte, am Ende jedoch deren Forderungen nachgeben musste. Warum halten Sie das für ein passendes Szenario?

Polen versuchte in den 1970er-Jahren mithilfe westlicher Kredite und einem konsumorientierteren Modell des „real existierenden Sozialismus“ zu überleben. Nach der Niederschlagung von Solidarność gab es so etwas wie ein Wirtschaftsmodell nicht mehr wirklich. Wenn die vorherige wirtschaftliche Strategie nicht mehr funktioniert und die Wirtschaft stagniert, dann hängt alles davon ab, welche Haltung die Schutzmacht einnimmt. Im Winter 1980/81 unterstützte die Sowjetunion unter Leonid Breschnew die Repression der Solidarność durch den polnischen Staat, während sich Michail Gorbatschow 1989 für eine Liberalisierung einsetzte. In ähnlicher Weise hängt das Schicksal von Lukaschenka nun von Russland ab. Falls Putin oder sein Nachfolger ihm die Unterstützung entzieht, könnte das möglicherweise sein Ende bedeuten.

Sie beschreiben die belarusische Geschichte als „eine Reihe von Fehlstarts“. Was meinen Sie damit?

Es gibt dieses Vorurteil, Belarus sei nichts weiter als ein Russland Light, ohne eine eigene Geschichte. Jedes Land hat eine Geschichte, im Fall Belarus ist sie jedoch diskontinuierlich. Zuerst gab es die Zeit des Polazk, einem semiautonomen Fürstentum im alten Reich der Kiewer Rus, das einen sinnvollen Ausgangspunkt für die belarusische Nationalgeschichte darstellt. Danach wurde das heutige Belarus Teil von Litwa, dem lokalen Namen des „litauischen“ Teils von Polen-Litauen. Die Belarus*innen sind der Idee dieses multinationalen Staats lange treu geblieben. Als Nächstes folgten die zaristische Herrschaft und ein kurzlebiger Versuch, einen eigenen Staat zu gründen, die Belarusische Volksrepublik von 1918. Die Geschichte von Belarus beginnt dann geradezu aus dem Nichts mit dem Beginn der Sowjetzeit und dem Zweiten Weltkrieg. All diese Brüche haben dazu geführt, dass die nationale Identitätsbildung durch sich immer wieder abwechselnde Starts und Stopps bestimmt wurde.

Belarus war historisch ein Teilgebiet größerer Staaten: Rus, Litwa, Russisches Reich und Sowjetunion. Warum haben antiimperialistische Einstellungen trotzdem keine weite Verbreitung gefunden?  

Weil die Kosaken in der Geschichte von Belarus anders als in der Ukraine keine Rolle gespielt haben. Kosaken waren Menschen aus der Steppe, die unabhängig auf dem Gebiet der heutigen Ukraine und Russlands lebten. In der Ukraine sind die Kosaken ein Symbol für Freiheit und Widerstand gegen Fremdherrschaft. In Belarus gibt es diese Tradition nicht. Widerstand gegen äußere Autoritäten wird auf subtilere Weisen zelebriert. Es gibt die Vorstellung eines passiven Widerstands einer Gesellschaft, auf die sich die Fremdherrschaft nur wenig auswirkte. Die Belarus*innen sind ein sehr sesshaftes Volk, sie haben keine Migrationsgeschichte. Sie sind dort geblieben, wo sie waren, während fremde Mächte kamen und gingen. Die Partisanen während des Zweiten Weltkriegs sind die große Ausnahme zu diesem Mangel beziehungsweise der begrenzten Natur der Widerstandsmythen. Interessanterweise waren sie für die Geschichtsschreibung Lukaschenkas von zentraler Bedeutung; die Demonstrant*innen letztes Jahr versuchten jedoch sich diesen Mythos neu anzueignen, ihn von seiner sowjetischen Tradition zu lösen, und aus ihm einen neuen Protestmythos zu machen – „Wir sind die neuen Partisanen“. 

Das Gespräch führte Henri Koblischke, studentische Hilfskraft im Bereich Kommunikation des ZOiS.


Andrew Wilson ist Professor für Ukraininestudien am University College London und Senior Policy Fellow des European Council on Foreign Relations. Die überarbeitete zweite Ausgabe seines Buch „Belarus: The Last European Dictatorship“ ist gerade bei Yale University Press erschienen.