Pressemitteilung

Regionalproteste im russischen Chabarowsk: durch Social-Media-Mobilisierung zum Massenprotest

23.06.2021

Die Verhaftung des Gouverneurs von Chabarowsk Krai 2020 rief Massenproteste hervor, die sich über mehrere Monate hinzogen und den Kreml vor ernstzunehmende Herausforderungen stellten. Ein neuer ZOiS Report untersucht, wie die Proteste in den sozialen Medien interpretiert wurden und liefert so Erklärungen für deren Dauer und Massencharakter.

Im Sommer 2020 machte die Region Chabarowsk im Fernen Osten Russlands durch monatelange Proteste von sich hören. Ausgelöst hatten sie die Festnahme und Inhaftierung des Gouverneurs Sergej Furgal, dem vorgeworfen wurde, in den frühen 2000er Jahren zwei Morde organisiert zu haben. Auf ihrem Höhepunkt beteiligten sich an den Demonstrationen und Kundgebungen zur Unterstützung des 2018 überraschend gewählten Furgals allein in der Regionalhauptstadt mehr als 10.000 Menschen. Dieser ZOiS Report versucht, die Interpretationen der Inhaftierung und der Proteste selbst zu rekonstruieren und deren  Dauer und Massencharakter zu erklären.

Die sozialen Medien sind ein bedeutender Kommunikationsraum für alternative Diskurse und oppositionelle Aktivitäten in Russland. Für den vorliegenden Report untersucht die Soziologin Tatiana Golova das Framing der Ereignisse rund um Furgals Anklage und die Proteste in den russischsprachigen sozialen Medien. Die Autorin setzt dafür Techniken des natural language processing (NLP) ein und rekonstruiert so die langfristigen Dynamiken positiver, negativer und neutraler Berichte. Aus einem Textkorpus von tausenden positiven Social-Media-Posts bestimmt sie für zwei ausgewählte Zeiträume Cluster ähnlicher Texte und die Hauptmotive – Frames –, von denen die Mobilisierung getragen wurde. Der Report zeigt darüber hinaus, wie diese Frames mit den sozioökonomischen und politischen Entwicklungen in Chabarowsk miteinander in Beziehung stehen.

Für die Anfangsphase der Proteste sind die folgenden Frames wichtig:

  • Sergej Furgal als “Volksgouverneur“ steht im Zentrum zweier großer Textgruppen. Die Variante „unser Gouverneur“ speist sich vor allem aus dem politischen Sieg, die sein Überraschungserfolg bei den Wahlen von 2018 für eine unzufriedene Wählerschaft bedeutet hat. In der Textgruppe des „guten Gouverneurs“ werden dagegen vor allem Furgals positive Eigenschaften unterstrichen.
  • Die Identität des russischen Fernen Osten bildet ein symbolisches Gegenstück zur sozioökonomischen Spannung zwischen Zentrum und Peripherie. Sie wird durch das Framing von Chabarowsk als „rebellischer Stadt“ oder „Krai der freiheitsliebenden Menschen“ hervorgehoben.
  • Die regionale Identität und der Hintergrund der Protestwahl von 2018 verbinden sich miteinander zum Framing der Verhaftung als „Rache an der Protestregion“. Die Hauptgegner der Region und der Protestierenden sind dabei der Präsident Wladimir Putin selbst, die staatsnahen Massenmedien und zu einem späteren Zeitpunkt auch die Polizei und der neu eingesetzte Gouverneur.
  • Die Protestpraxis des „Taubenfütterns“ steht für das ironische Unterlaufen digitaler Repression und für die tatsächliche Aktionen auf der Straße. Der Massen- und Seriencharakter der Straßenproteste und die Ausdauer der Protestierenden sind als motivierendes Framing von Anfang an relevant und werden sowohl von Beobachter*innen als auch von den Protagonist*innen selbst immer wieder betont.

“Diese Vielfalt der Interpretationen ist typisch für das Framing der Proteste von Chabaraowsk und verdeutlicht, dass es sich nicht um ein strategisch geplantes Framing handelt und wir es mit einer vernetzten, dezentralen Mobilisierung ohne Führungsfiguren zu tun haben“, erklärt Tatiana Golova.

Die zweite analysierte Phase umfasst Ereignisse im frühen Oktober, etwa die gewaltsame Auflösung eines geplanten Protestcamps am Leninplatz. „Während der Ausdruck von Schock und Empörung dem der ersten Phase recht ähnlich ist, zeigt das Framing nun nicht mehr die Vielfalt an Stimmen und Interpretationen der Anfangsphase, sondern konzentriert sich im Wesentlichen auf die Polizeigewalt und die zahlreichen Festnahmen“, fasst Tatiana Golova zusammen.

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