Reflexionen zur ERDAM-Konferenz 2025: Migration, Mobilisierung und Diaspora in Zeiten des Krieges neu denken
Vom 25. bis 26. September 2025 veranstaltete das Zentrum für Osteuropäische und Internationale Studien (ZOiS) in Berlin die ERDAM-Konferenz „Emerging Russian Diasporas – Exploring New Dynamics and (Im)Mobilisation Patterns“. Mehr als 30 Wissenschaftler, Menschenrechtsaktivisten und Akteure der Zivilgesellschaft aus ganz Europa kamen zu dieser zweitägigen Veranstaltung zusammen, um die sich wandelnden Realitäten der russischen und belarussischen Migration vor dem Hintergrund der umfassenden russischen Invasion in der Ukraine und der transnationalen Auswirkungen autoritärer Repression zu untersuchen.
Drei Jahre nach Kriegsbeginn bot die Konferenz eine dringend notwendige Neubewertung, wie Exil, Vertreibung und politische Gewalt neue Diasporas prägen und wie diese Gemeinschaften mit den verschwimmenden Grenzen zwischen ziviler Mobilisierung und Rückzug umgehen. Die Diskussionen behandelten sich entwickelnde Ost-West- und Süd-Süd-Migrationsrouten, die Auswirkungen autoritärer Politiken auf (Im)Mobilität und das komplexe zivile Leben von Migranten in den Gesellschaften der Aufnahmeländer.
Eröffnungsveranstaltungen: Öffentliche Gespräche über Exil und Repression
Im Gespräch mit… Russlands Kriegsflüchtlingen
Die Konferenz wurde am 25. September mit zwei öffentlichen Veranstaltungen eröffnet: einem halbgeschlossenen Dialog unter Forschern und einem öffentlichen Forum, das den Blick wieder auf die Repression innerhalb Russlands richtete. Diese halböffentliche Sitzung, die für politische Entscheidungsträger gedacht war, untersuchte die Dynamiken der russischen Kriegsflucht und die Diaspora-Politik, moderiert von Tsypylma Darieva (ZOiS). Susanne Bygnes (Universität Bergen) erörterte, wie russische Migranten in Europa transnationale Anti-Kriegs-Proteste organisierten, um eine dissidente russische Identität zurückzuerobern und regierungsnahe Narrative zu widerlegen. Joanna Fomina (Polnische Akademie der Wissenschaften) analysierte die Bildung von Widerstandsgruppen wie dem Zivilen Rat und zeigte, wie einige Exilanten vom zivilen Aktivismus zur militärischen Unterstützung der Ukraine übergingen. Tatiana Golova (ERDAM) fokussierte den deutschen Kontext, in dem russischsprachige Migranten über Generationen hinweg eine Schlüsselrolle bei der Umsetzung von humanitären Visa-Verfahren spielten und gleichzeitig interne Spaltungen navigierten. Margarita Zavadskaya (Finnisches Institut für Internationale Angelegenheiten) präsentierte eine Untersuchung darüber, warum sich viele politisch aktive russische Exilanten nach ihrer Migration von politischem Engagement zurückziehen, und identifizierte Hindernisse wie Angst, Erschöpfung, sozioökonomische Not und moralische Ambivalenz.
ZOiS-Forum: Repression in Russland – Zielgruppen und Chancen für europäische Solidarität
Am späten Abend wurde diese öffentliche Veranstaltung abgehalten, die untersuchte, wie politische Repression in Russland nicht mehr ausschließlich auf abweichende Handlungen abzielt, sondern zunehmend Menschen aufgrund ihrer Identität ins Visier nimmt – wie etwa sexuelle Orientierung, ethnische Zugehörigkeit oder wahrgenommene Verbindungen zu ausländischen Akteuren. Denis Shedov, Analyst der Menschenrechtsorganisation OVD-Info, skizzierte, wie die Repression über die traditionellen Oppositionskreise hinaus auf LGBTQ+-Personen, Aktivisten, die als „ausländische Agenten“ gebrandmarkt wurden, und ethnische Minderheiten ausgeweitet wurde, die überproportional für den Krieg mobilisiert werden. Evi Chayka, Gründerin von Equal PostOst, sprach über die Kriminalisierung queerer Identitäten und die Schließung queerer öffentlicher Räume. Stephan Dudeck, Sozialanthropologe an der Universität Tartu, zog aus seiner langfristigen Forschung mit indigenen Gemeinschaften in Sibirien, um über die Repression in den Peripherien Russlands zu berichten. Die Sitzung, moderiert von Tatiana Golova, hob hervor, wie die innere Repression mit globalen Mustern des Autoritarismus zusammenfällt und welche Spielräume für Solidaritätsarbeit innerhalb Europas noch bestehen.
Tag Zwei: Akademische Panels und Rundtischgespräche
Panel 1: Diasporische Mobilitäten und ambivalente Handlungsfähigkeit
Vorsitz geführt von Félix Krawatzek (ZOiS), untersuchte dieses Panel die fließende und kontextabhängige Natur politischer Handlungsfähigkeit unter russischen Kriegsflüchtlingen im Exil. Susanne Bygnes (Universität Bergen) untersuchte, wie viele Migranten in Europa zwischen demokratischen Idealen und politischer Entfremdung schwanken und oft entscheiden, sich ganz aus der Politik herauszuhalten. Bahar Baser (Durham University) hob die prekäre Lage der russischen Exilanten in der Türkei hervor, wo rechtliche Unklarheiten und geopolitische Druckmittel aktivistisches Engagement einschränken. Tsypylma Darieva (ZOiS) richtete den Fokus auf Georgien als einen wichtigen Ort sowohl für (Im)Mobilität von Migranten als auch für sich verändernde politische Engagements und zeigte, wie politisches Aktivismus unter Druck oft verblasst. Das OutRush-Forschungsteam präsentierte neue Erkenntnisse zu den Rückkehrabsichten politischer Emigranten aus Autokratien und argumentierte, dass Anreize des Regimes, die Bedingungen im Gastland und die Aussichten auf Veränderungen die Entscheidungen beeinflussen, ob man zurückkehrt oder im Ausland bleibt.
Panel 2: Migrant*innen-Interaktionen in den Aufnahmeländern
Vorsitz geführt von Inta Mieriņa (Universität Lettland), konzentrierte sich dieses Panel darauf, wie russische Kriegsflüchtlinge mit ihren Aufnahmesgesellschaften interagieren und wie sie innerhalb dieser wahrgenommen werden. Yuliana Melkumyan (Staatliche Universität Jerewan) analysierte die Integrationserfahrungen russischer Migranten in Armenien und hob hervor, wie der plötzliche Zustrom sowohl die Neuankömmlinge als auch die lokale Bevölkerung beeinflusst hat. Vadim Romashov (Universität Ostfinnland) untersuchte, wie russischsprachige Minderheiten in Finnland alltägliche Unsicherheiten und Marginalisierung erfahren, angesichts einer zunehmenden gesellschaftlichen Militarisierung, die wiederum Muster politischer Mobilisierung prägt. Tatiana Golova (ERDAM) und Galina Selivanova (FernUniversität Hagen) verfolgten die sich entwickelnden Rollen verschiedener Generationen russischer Migrantenaktivist*innen und zeigten, wie der Krieg Aktivistennetzwerke umstrukturiert und intergenerationale Dynamiken verstärkt hat.
Panel 3: Vergleichende Perspektiven auf russische und belarussische Exilanten
Vorsitz geführt von Diana Rafailova (SCRIPTS), bot dieses Panel vergleichende Einblicke in die Erfahrungen russischer und belarussischer Exilanten nach dem Aufstieg autoritärer Repression und dem Krieg in der Ukraine. Olga Bronnikova und Tatyana Shukan (Universität Bordeaux Montaigne) untersuchten die Lebenswege politischer Exilanten aus beiden Ländern in Georgien und hoben die gemeinsamen Herausforderungen von Vertreibung, Unsicherheit und Aktivismus im Exil hervor. Olga Gille-Belova (Universität Bordeaux Montaigne) erforschte, wie belarussische Eltern im Exil Bildungsstrategien entwickeln, um ihre Identität zu bewahren und ihren Kindern in fremden Kontexten Stabilität zu bieten. Christian Fröhlich (Universität Hamburg) analysierte, wie der Krieg die Intergruppenbeziehungen und Identitätskonstruktionen unter Migranten umgestaltet hat, insbesondere in Bezug darauf, wie russische Exilanten wahrgenommen werden und wie sie ihre Position als „Andere“ verhandeln.
Abschließendes Rundtischgespräch: Was kommt als Nächstes?Moderiert von Tsypylma Darieva (ZOiS), versammelte das abschließende Rundtischgespräch Wissenschaftler*innen, darunter Margarita Zavadskaya (Finnisches Institut für Internationale Angelegenheiten), Inta Mieriņa (Universität Lettland), Guri Tyldum (Fafo-Stiftung), Vlada Baranova (Universität Hamburg), eine Vertreterin des OutRush-Projekts und Gwendolyn Sasse (ZOiS), um über zukünftige Perspektiven nachzudenken. Die Diskussion betrachtete aufkommende Forschungsperspektiven zu russischen und belarussischen Kriegsdiasporas, mit einem Fokus auf langfristige Dynamiken, politische Implikationen und die sich entwickelnde Rolle der Exilgemeinschaften.
Interdisziplinäre und transnationale Perspektiven
Während der gesamten Konferenz griffen die Teilnehmer*innen auf Arbeiten aus Soziologie, Politikwissenschaft, Anthropologie und Linguistik zurück und repräsentierten Institutionen aus Deutschland, Norwegen, Georgien, Armenien, Finnland, Polen und Großbritannien. Einige sind in kollaborativen Projekten tätig, die sich mit Migration und Repression befassen, darunter RAW, OutRush und EXILEST.
Indem diasporisches Wissen und transnationale Erfahrungen im Mittelpunkt standen, unterstrich die ERDAM-Konferenz 2025, dass Migration nach 2022 nicht nur eine Folge von Krieg und Repression ist, sondern auch ein Ort der Identitätsbildung, zivilgesellschaftlichen Neuordnung und politischen Möglichkeiten. Während der Krieg weitergeht und das Exil länger dauert, besteht die Herausforderung nun darin, Rahmenbedingungen zu entwickeln, die die Komplexität von Vertreibung in einer Krisenzeit erfassen – nicht nur als Bruch, sondern auch als Widerstand.
Die Rundtischgespräche der Konferenz hoben mehrere wichtige Richtungen für zukünftige Forschung hervor: die Bedeutung der Entessentialisierung und Entexotisierung der Russinnen im konzeptionellen Sinne; die Entwicklung vergleichender Ansätze, die berücksichtigen, wie unterschiedliche Aufnahmeländer-Kontexte (demokratische und weniger demokratische) diasporische Mobilisierung und Integrationsstrategien prägen; sowie den Wert des Vergleichs russischer Migranten mit anderen nationalen Gruppen (wie Belarussinnen, Syrerinnen und Iranerinnen) innerhalb spezifischer Länder. Die Teilnehmer*innen betonten auch die Notwendigkeit multimethodischer Forschungsstrategien, um die Einschränkungen einseitiger Studien zu überwinden.