ZOiS Spotlight 5/2024

Türkei: Ein neuer Knotenpunkt für Migration aus Russland

Von Félix Krawatzek 06.03.2024

Viele Russ*innen sind nach dem vollumfänglichen russischen Angriff auf die Ukraine in die Türkei migriert und bilden heute die größte Gruppe von Migrant*innen im Land. Eine neue Studie gibt Aufschluss über ihre Gründe, Russland zu verlassen, ihre politischen Haltungen und ihre Pläne für die Zukunft.

Istanbul, Türkei, Februar 2024: Spaziergänger*innen auf der Galata-Brücke mit Blick auf die Neue Moschee © IMAGO / ZUMA Wire

Die Türkei ist ein entscheidender Akteur im russischen Krieg gegen die Ukraine. Die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat ihre Unterstützung für die territoriale Souveränität der Ukraine zum Ausdruck gebracht und militärische sowie diplomatische Hilfe geleistet. Allerdings hat sich das Land den westlichen Sanktionen gegen Russland nicht angeschlossen und hat sich zu einem der wichtigsten Abnehmer für russisches Gas und Rohöl sowie zu einem zentralen Knotenpunkt für Reisen zwischen der EU und Russland entwickelt. So hat die Türkei nicht nur geflüchtete Ukrainer*innen willkommen geheißen, sondern auch Russ*innen, die ihr Land wegen der zunehmenden Repressionen verlassen. Die Ereignisse in den Wochen vor der russischen Präsidentschaftswahl geben keinen Anlass zur Hoffnung, dass sich das autoritäre russische System in absehbarer Zeit ändern wird.

Im Sommer 2023 haben wir eine der wenigen Face-to-Face-Befragungen von russischen Staatsangehörigen in der Türkei durchgeführt. Wir haben mehr als 1.000 Personen in Antalya, Izmir, Ankara und Mersin befragt, von denen die überwiegende Mehrheit– etwa 80 Prozent –Russland nach der Invasion vom Februar 2022 verlassen hat. Ähnlich wie Russ*innen in anderen Ländern ist diese Gruppe jünger als die russische Gesamtbevölkerung (mit 34,6 Jahren liegt das Durchschnittsalter fünf Jahre unter dem russischen Mittelwert) und über 70 Prozent stammen aus Großstädten mit mehr als einer Million Einwohner*innen.

Ein gastfreundliches Langzeitziel

In ihrem Balanceakt zwischen Ost und West pflegt die Türkei eine Politik der offenen Tür für russische Migrant*innen. So sind russische Staatsangehörige heute die größte Gruppe von Zugewanderten mit befristeten und unbefristeten Aufenthaltstiteln in der Türkei. Anfang 2024 hatten 100.000 Russ*innen eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis, weitere 67.000 einen befristeten Aufenthaltstitel und fast 12.000 eine Aufenthaltserlaubnis für Familienangehörige.

Ähnlich wie in anderen Aufnahmeländern lassen sich zwei Wellen russischer Migration ausmachen. Bei der ersten im Frühling 2022 wanderten überwiegend politische Oppositionelle, Journalist*innen und im IT-Sektor Beschäftigte aus. Eine weitere Welle gab es nach der Ankündigung der Teilmobilmachung im September 2022.Wenig überraschend war hier der Anteil junger Männer besonders hoch. Während einige dieser Migrant*innen politisch aktiv sind, ist die Türkei auch zu einem Ziel für wohlhabende Russ*innen geworden, die die westlichen Sanktionen umgehen wollen.

Die überwiegende Mehrheit der Befragten empfindet die türkische Gesellschaft – ebenso wie die Behörden – gegenüber Menschen aus Russland als (weitgehend) wohlgesinnt. Angesichts einer im Allgemeinen gastfreundlichen Atmosphäre äußert ein Drittel der Befragten, dass sie länger als drei Jahre in der Türkei bleiben wollen. Befragte im Alter von 18 bis 24 Jahren sowie solche über 50 Jahren geben eher an, länger bleiben zu wollen. Das Gleiche gilt für Befragte mit Kindern, aber auch Studierende, die ein Siebtel der Befragten ausmachen.

Die Entwicklungen auf dem Immobilienmarkt deuten ebenfalls darauf hin, dass viele russische Migrant*innen für längere Zeit in der Türkei bleiben wollen. Aus Russland Eingewanderte stellen dort inzwischen die größte Gruppe von ausländischen Käufern von Apartments. Im Oktober 2022 machten sie alleine 2.000 der insgesamt 5.300 Immobilienkäufe durch Personen aus dem Ausland aus. Die beträchtliche Zunahme des Immobilienerwerbs durch Russ*innen (und Ukrainer*innen) hat die Inlandsnachfrage dramatisch ansteigen lassen. Für die Mehrheit der Russ*innen ist der Immobilienerwerb jedoch keine Option, und unsere Umfrage zeigt, dass die Suche nach Wohnraum das wichtigste Problem für Eingewanderte bleibt.

Die Anwesenheit von Russ*innen macht sich sowohl in kleineren als auch in größeren Städten bemerkbar. So wird beispielsweise das Istanbuler Lâleli-Viertel als das „Herz des russischen Istanbul‟ bezeichnet. Viele Verkäufer*innen hier sprechen Russisch und es gibt russische Beschriftungen in Geschäften und Restaurants. In Antalya soll die Mehrzahl der ausländischen Bevölkerung in den Vierteln Alanya und Konyaaltı aus Russland stammen.

Verbindungen nach Russland und in andere Länder

Unserer Studie zufolge unterhalten Russ*innen in der Türkei ein sehr dichtes Kommunikationsnetzwerk mit den Menschen in der Heimat. Mehr als 80 Prozent kommunizieren mindestens einmal wöchentlich mit Angehörigen aus ihrem Freundes- und Familienankreis in Russland. Diese Art transnationaler Kommunikation ist vor allem typisch für diejenigen, die sich in der Türkei nicht in irgendeiner Form sozial oder politisch für Ukrainer*innen engagiert haben.

Darüber hinaus sind Russ*innen in der Türkei gut vernetzt mit Landsleuten, die in andere Länder ausgewandert sind. Knapp die Hälfte hat Freund*innen, die ebenfalls ihr Heimatland nach Februar 2022 verlassen haben. Innerhalb dieser Gruppe sind die unter 35-Jährigen besonders gut vertreten. Das gleiche gilt für Befragte, die vor 2022 in Russland an Protesten teilgenommen haben, was zeigt, wie wichtig solche Netzwerke für die Entscheidung zur Migration sind. Starke Verbindungen gibt es auch zu Landsleuten in Georgien, Armenien und Kasachstan sowie in geringerem Umfang in Deutschland und Israel.

Spaltungen über Geopolitik

Spiegelbildlich zur ambivalenten politischen Linie der türkischen Regierung sind auch die Befragten in der Türkei hinsichtlich des Krieges in der Ukraine gespalten. In unserem Sample schreiben etwas mehr Befragte die Verantwortung für den Ausbruch und die Fortdauer des Krieges den USA oder der NATO zu als Russland.

Ein typischer Befragter, der den Westen beschuldigt, ist 35 Jahre oder älter, stammt aus einer russischen Stadt mit weniger als einer Million Einwohner*innen und steht in engem Kontakt mit anderen Russ*innen in der Türkei. Dagegen stehen diejenigen, die Russland für verantwortlich halten, in weniger engem Kontakt zu anderen Landsleuten im Ausland, stammen aus größeren Städten und sind jünger als 25 Jahre.  Außerdem neigen diejenigen, die die Verantwortung Russland zuschreiben, eher dazu, den Nachrichten über den Krieg nicht länger zu folgen. Die Netzwerke unter aus Russland stammenden Personen in der Türkei könnten daher bei denjenigen, die der westlichen Rolle im Krieg kritisch gegenüberstehen, dichter geknüpft sein.

Die Skepsis gegenüber dem Westen, auf die wir in unserer Befragung stoßen, deckt sich mit Ansichten in der türkischen Gesellschaft. Der German Marshall Fund hat festgestellt, dass 50 Prozent der Türk*innen negative und 40 Prozent positive Einschätzungen des nordamerikanischen und russischen Einflusses auf das Weltgeschehen haben.

Keine einheitliche Identität

Die Zuwanderung einer großen Zahl von Russ*innen ist für die Türkei, in der zuvor die Einwanderung aus dem Irak und Iran dominierte, ein neues Phänomen. Heute ist eine zahlenmäßig bedeutende russische Gemeinschaft im Entstehen begriffen. Aber angesichts der unterschiedlichen politischen Haltungen innerhalb dieser Gemeinschaft ist kaum anzunehmen, dass sich eine starke übergreifende Gruppenidentität herausbilden wird. Während sich diese neuen Migrant*innen auf eine langfristigere Zukunft in der Türkei einstellen, werden sie ihre jeweiligen Nischen in der türkischen Gesellschaft mit eigenen politischen Fraktionierungen hinsichtlich Russlands, des Westens und des Krieges in der Ukraine finden.


Dr. Felix Krawatzek ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am ZOiS und leitet den Forschungsschwerpunkt „Jugend und generationeller Wandel“.