ZOiS Spotlight 34/2022

Polen: Hohe, aber volatile Unterstützung für europäische Integration

Von Félix Krawatzek 16.11.2022
Krakau, Polen, Oktober 2021: Pro-EU-Kundgebung nach der Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts, dass die polnische Verfassung Vorrang vor dem EU-Recht habe. IMAGO / ZUMA Wire

Aus dem Englischen übersetzt von Armin Wolking.

Es gibt in Polen einen merkwürdigen Kontrast zwischen der Unterstützung, die die europäische Integration innerhalb der polnischen Gesellschaft erfährt, und dem euroskeptischen Rechtspopulismus der herrschenden Recht-und-Gerechtigkeit-Partei (PiS). Die Institutionen der EU und Polen liegen über eine Vielzahl von Themen miteinander im Streit, sei es wegen der Rechtsstaatlichkeit, den Push-Backs von Geflüchteten an der Grenze zu Belarus oder den Fördergeldern, die aufgrund des LGBT-freien Status von etwa 100 polnischen Gemeinden von der EU zurückgehalten werden. Gleichzeitig spielt das Land für die kollektive Antwort Europas auf den russischen Krieg in der Ukraine eine entscheidende Rolle.

Um herauszufinden, wie junge Pol*innen zur EU stehen, führte das ZOiS im März 2022 eine eigene Onlineumfrage unter 2.000 jungen Pol*innen aus allen Teilen des Landes durch. Die Umfrageergebnisse bestätigen, dass die Einstellungen gegenüber der EU im Allgemeinen positiv sind, zeigen aber auch, wie sehr die Zustimmung davon abhängt, was die Befragten unter Europa verstehen. Viele Befragte befürworten die EU-Integration auf eine eher abstrakte Weise, solange sie nicht mit dem Nationalstaat in Konflikt gerät.

Kein Interesse an einem Polexit

Im Frühjahr 2022 äußerten sich die Menschen in Polen so positiv über die EU wie in kaum einem anderen Land in und außerhalb der Union. Einer Umfrage des Pew Research Centers zufolge war die Zustimmung so hoch wie nie zuvor; überwältigende 89 Prozent der Befragten äußerten sich positiv über die EU, wenn auch das Maß der Unterstützung variierte, je nachdem welche politischen Ansichten die Befragten vertraten. So standen Anhänger*innen der PiS-Partei der EU skeptischer gegenüber.

Die Regierungspartei schlägt politisches Kapitel daraus, die EU als eine Bedrohung, insbesondere für die Kultur und das Gesellschaftsmodell des Landes, darzustellen und sich selbst als Beschützerin zu inszenieren. Solche diskursiven Manöver, zu denen auch die Priorisierung der NATO gegenüber einer gemeinsamen europäischen Verteidigungspolitik gehört, sollten allerdings nicht mit einem tatsächlichen Wunsch verwechselt werden, die EU zu verlassen, auch wenn die PiS-Partei bisher keinerlei Verlangen zeigt, der Eurozone beizutreten. Als wir jungen Pol*innen die Frage stellten, wie sie in einem hypothetischen Referendum über die EU-Mitgliedschaft ihres Landes abstimmen würden, war das Ergebnis eindeutig. Eine überwältigende Mehrheit der jungen Menschen aus allen gesellschaftlichen Schichten gab an, dass sie für einen Verbleib in der EU stimmen würden.

Etwa 10 Prozent der jungen Menschen würden für einen EU-Austritt stimmen, ein Anteil, der weit unter dem im August 2021 erhobenen nationalen Durchschnitt von 17 Prozent liegt. Unter Frauen und religiösen Menschen war die Neigung, für einen Austritt zu stimmen, höher. Und während die finanzielle Lage der Befragten streng genommen keinen statistisch signifikanten Effekt hatte, ließ sich doch beobachten, dass Menschen, die schlechter gestellt waren, im hypothetischen Fall eher für einen Austritt stimmen würden. Besonders groß ist die Ablehnung gegenüber der EU unter Befragten, die in den östlichen Woiwodschaften des Landes leben, während Unterstützer*innen des Warschauer Bürgermeisters Rafał Trzaskowski oder des Journalisten Szymon Hołownia – beides Kandidaten bei der Präsidentschaftswahl 2020 – die polnische EU-Mitgliedschaft in signifikant höherem Maße unterstützen.

Woran Befragte erinnert werden, beeinflusst Zustimmung zur EU

Obwohl die oben abgebildeten Ergebnisse eindeutig erscheinen, lohnt es sich, sie genauer unter die Lupe zu nehmen. Auf unsere Frage hin, inwiefern die europäische Integration die nationale Identität bedrohen könnte, gab ein Drittel der jungen Menschen an, dass dies ihrer Meinung nach (in gewissem Maß oder sehr stark) der Fall sei. Es ist außerdem bekannt, dass in Polen ein sehr anderes Verständnis von Europa herrscht als in anderen europäischen Ländern, da in Polen zum Beispiel das christliche Erbe der Region stärker im Mittelpunkt steht.

Wie stark hängt die Unterstützung der EU also davon ab, welche Informationen den Befragten über Europa zur Verfügung stehen? In unserer Umfrage teilten wir die Befragten in vier randomisierte Gruppen ein[1]. Drei dieser Gruppen wurden an jeweils einen spezifischen Konflikt zwischen Polen und der EU erinnert, während den Befragten in der vierten Gruppe, der Kontrollgruppe, lediglich eine kurze, sachliche Feststellung zur polnischen EU-Mitgliedschaft vorgelegt wurde. Dann stellten wir ihnen allen folgende Frage: „Manche sagen, dass die europäische Integration weiter vertieft werden sollte, während andere meinen, sie sei bereits zu weit gegangen. Was ist ihre Meinung zu diesem Thema?“

Je nachdem, was den Befragten im Vorhinein gesagt wurde, zeigten sich bemerkenswerte Unterschiede ihrer Einstellungen. Von den jungen Menschen, die lediglich an Polens EU-Mitgliedschaft erinnert wurden, sprach sich eine Mehrheit für eine weitere Vertiefung der europäischen Integration aus. Jeder Hinweis auf Konflikte zwischen der EU und Polen führte zu signifikant skeptischeren Ansichten über eine stärkere europäische Integration.

Eine tiefergehende Analyse bestätigt, dass die Unterschiede der Zustimmungswerte für eine stärkere EU-Integration weitestgehend auf die jeweilige Kontextualisierung der Frage zurückgeführt werden können. Vor allem Frauen sprachen sich besonders dann gegen eine stärkere europäische Integration aus, wenn der Streit um die „LGBT-freien Zonen“ erwähnt wurde. Ähnliches zeigte sich bei Wähler*innen des amtierenden Präsidenten Andrzej Duda. Befragte, die angaben nicht religiös zu sein, sprachen sich unabhängig davon, welche Version der Frage ihnen vorgelegt wurde, mit einer signifikant höheren Wahrscheinlichkeit für eine weitere Vertiefung der europäischen Integration aus. Währenddessen gaben die Anhänger*innen des rechtsradikalen Politikers Krzysztof Bosak ebenfalls an, dass die EU-Integration zu weit gegangen sei, besonders dann, wenn die „LGBT-freien Zonen“ erwähnt wurden.

Wofür Europa steht, ist wichtig

Was den Menschen über die EU gesagt wird, bestimmt in einem signifikanten Maß, was sie über Europa denken. Aus diesem Grund versucht die EU seit Jahrzehnten, den Bürger*innen Europa näherzubringen. Wer Gelder von der EU erhält, muss dies zum Beispiel durch entsprechende Tafeln an den jeweiligen Projektstandorten deutlich machen, vermutlich um vor Ort für mehr Unterstützung zu sorgen. Institutionen der EU beteiligen sich außerdem an Debatten über Europas Geschichte und Identität. Ob solche EU-Initiativen irgendeinen Unterschied machen, bleibt ungewiss. Klar ist jedoch, dass die Marke „Europa“ in den einzelnen Mitgliedsstaaten eine unterschiedliche Bedeutung hat. Auch die Art und Weise, wie die Institutionen der EU mit Polen umgehen, hat offensichtlich einen Einfluss darauf, ob junge Pol*innen eine stärkere europäische Integration befürworten oder nicht. Wie unsere Umfrage zeigt, gerät die Unterstützung für eine weitere europäische Integration ins Wanken, wenn die EU versucht als Korrektiv für nationale Defizite zu wirken.


Dr. Felix Krawatzek ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am ZOiS und leitet den Forschungsschwerpunkt Jugend und generationeller Wandel

[1] Texte, die den vier Befragtengruppen zusammen mit der folgenden Frage vorgelegt wurden: „Manche sagen, dass die europäische Integration weiter vertieft werden sollte, während andere meinen, sie sei bereits zu weit gegangen. Was ist ihre Meinung zu diesem Thema?“

Gruppe 1
Rechtsstaatlichkeit: 
Die Europäische Kommission hat entschieden, Polen wegen des Justizgesetzes von 2019 vor den Europäischen Gerichtshof zu bringen. Die Kommission ist der Meinung, dass das polnische Justizgesetz die richterliche Unabhängigkeit gefährdet und polnische Gerichte daran hindert, bestimmte Bestimmungen des EU-Rechts direkt anzuwenden. Deshalb hat der Europäische Gerichtshof Polen aufgrund seiner umstrittenen Justizreform mit Bußgeldern in einer Höhe von 1 Million Euro pro Tag belegt.

Gruppe 2
Flüchtlingskrise Belarus: 
Als tausende Menschen gezwungen waren, an der polnisch-belarussischen Grenze in der Kälte auszuharren, schoben die Spitzen der Europäischen Union ihre Konflikte mit Polen beiseite und erklärten sich solidarisch mit Polens Bemühungen, Migrant*innen davon abzuhalten nach Europa zu gelangen. Der Präsident des Europäischen Rats Charles Michel erklärte: „Polen ist mit einer massiven Krise konfrontiert. Es ist eine Krise, die wir ernst nehmen, und die die Solidarität und Einheit der gesamten Europäischen Union verlangt."

Gruppe 3
„LGBT-freie Zonen“: 
Im Juli letzten Jahres leitete die Europäische Kommission ein Verfahren gegen Polen aufgrund der Gesetze über sogenannte „LGBT-freie Zonen“ ein, die in einer Reihe von polnischen Regionen und Gemeinden erlassen wurden. Die Kommission ist darüber besorgt, dass diese Deklarationen das europäische Recht auf Nichtdiskriminierung wegen der sexuellen Ausrichtung verletzen könnten. Da es immer noch Diskriminierung von LGBTIQ in den Mitgliedsstaaten gibt, versucht die Europäische Union ihre Rechte stärker zu schützen, auch wenn dies aufgrund nationaler Gesetze zu Spannungen führt.

Gruppe 4
Kontrollgruppe:
 Im Mai 2004 trat Polen der Europäischen Union bei und die große Mehrheit der Pol*innen unterstützt die EU-Mitgliedschaft Polens bis heute.