ZOiS Spotlight 27/2020

Smekalka, die ewige Lösung aller Probleme

Von Renata Gußmann 08.07.2020
Ein Beispiel für "smekalka": ein aus einer Plastikflasche gebastelter Futterspender. © Anna Dushenkina / Alamy Stock Foto

Wie jede Sprache ihre idiosynkratische Sammlung an besonderen Wörtern hat, die untrennbar mit ihrer Kultur verbunden sind, so ist der Ausdruck smekalka einer von mehreren russischen Begriffen, der nicht umfassend und angemessen ins Deutsche übersetzt werden kann. Sucht man smekalka in modernen Wörterbüchern, finden sich Begriffe wie „Mutterwitz“, „Grips“ und „Cleverness“. Solche Übersetzungen sind jedoch angesichts der vielfältigen Weisen, in denen der Ausdruck auftritt und angewendet wird, zu schlicht und unvollständig. Ein differenzierteres und tieferes Verständnis ist nötig, um diese ungewöhnliche Eigenschaft, mit der sich so viele Russ*innen zu identifizieren scheinen, zu erfassen.

Was ist smekalka?

Der umgangssprachliche Ausdruck smekalka tritt innerhalb der russischen Kultur und Geschichte in den verschiedensten Kontexten hervor. Dazu gehören Kinderbücher, Haushaltsratgeber, Folklore, Sprichwörter und Kriegslegenden, woran die Bandbreite an Bedeutungen sichtbar wird, die der Ausdruck umfasst. In einer Situation, die hilflos erscheint, ist smekalka die Fähigkeit, sich in welcher Form auch immer selbst zu helfen. Smekalka kann allerdings an alle möglichen Situationen gebunden sein: Egal, welches Problem auftaucht, wenn eine clever improvisierte Lösung gefunden wird, ist wahrscheinlich smekalka dafür verantwortlich.

Die vereinfachende Übersetzung als Cleverness muss also um Begriffe wie Einfallsreichtum, Erfindungskraft, Scharfsinn, Gerissenheit, Querdenken, Improvisation und eine schnelle Auffassungsgabe ergänzt werden. Während smekalka nicht notwendigerweise einen materiellen Ausdruck finden muss, sind die üblichsten Beispiele tendenziell physischer Art. Diese Implikationen sind hilfreich, um den Ausdruck besser zu verstehen, im Kern teilt smekalka aber seine wesentlichen Momente mit dem Begriff der Bricolage des französischen Anthropologen Claude Lévi-Strauss – sich mit allem zu behelfen, was gerade zur Hand ist.

Do-it-yourself  ist gefragt

Einige typische Aspekte des sowjetischen Alltags waren dafür verantwortlich, dass smekalka als eine Strategie aufkam, um das tägliche Leben zu bewältigen. Wiederkehrende Mängel und Warenknappheit, die Eigenarten der materiellen Kultur in der Sowjetunion sowie die Förderung und Popularität von Do-it-yourself (DIY) führten zu einer allgemeinen Einstellung und Denkweise, die smekalka zum Aufstieg verhalf. Die Zeitumstände zwangen die Menschen in der Sowjetunion, sich auf sich selbst zu verlassen, auch dann Lösungen zu finden, wenn nur wenige Möglichkeiten vorhanden waren, und Gegenstände zu erfinden oder funktional umzudefinieren, um mit den Unzulänglichkeiten des Systems, in dem sie lebten, zurechtzukommen.

Diese pragmatische Herangehensweise wurde durch die aufkommenden DIY-Medien noch tiefer verankert. Sie lieferten den Menschen nicht nur das Know-how, um Dinge selbst zu machen, sondern vermittelten auch die Vorstellung, dass sich Lösungen finden lassen, egal welche Mittel zur Verfügung stehen. Im Mittelpunkt standen Tricks und Kniffe, mithilfe derer sich Gegenstände anpassen, auf Vordermann bringen und umwandeln lassen, wodurch die Menschen einen flexiblen Umgang mit materiellen Objekten lernten und ihre Experimentierfreude geweckt wurde. Das ermutigte die allgemeine Öffentlichkeit, um die Ecke zu denken, herumzuwerkeln und aus ihren materiellen Besitztümern Gegenstände zu basteln. Damit hat sich smekalka zu einer wesentlichen Eigenschaft entwickelte, die für die Entstehung unzähliger einfallsreicher und ausgeklügelter Erfindungen verantwortlich ist.

Modernes smekalka

Es gibt in der russischen Geschichte viele konkrete Beispiele für smekalka. Aus Gabeln hergestellte Fernsehantennen, in Röntgenbilder eingravierte Musikaufnahmen, die weitverbreitete Praktik, auf gebrauchte Batterien zu klopfen, um ihre Lebensdauer zu verlängern – das sind nur einige wenige Beispiele, die die kreative Welt der smekalka-Improvisationen illustrieren. Bis zum heutigen Tage ist smekalka ein allgegenwärtiger, wenn auch oft übersehener Charakterzug der russischen Gesellschaft, der mittlerweile vor allem im Internet sichtbar wird. Eine Bildersuche nach “smekalka” fördert eine breite Vielfalt an Memes zutage: ausgehöhlte Bananenenden, die als Schnapsgläser dienen, zu Badewannen umgewandelte Kräne und als Mixer genutzte Bohrer. Auch diese Beispiele geben nur einen kleinen Einblick in die unbegrenzten Möglichkeiten von smekalka.

Es handelt sich nicht um einen inhärenten Teil des russischen Charakters, sondern eine anerzogene Eigenschaft, die durch harte Zeiten hindurch gehegt und gepflegt wurde, in denen Menschen für sich selbst sorgen mussten und Erfindungsgeist brauchten, um klarzukommen. In Zeiten wie der aktuellen Covid-19-Pandemie verbreiten sich ähnliche Praktiken auf der ganzen Welt. Wer nicht mehr ins Fitnessstudio gehen kann, zweckentfremdet Haushaltsgegenstände als Trainingsgeräte; und weil Nahrungsmittel aus Supermarktregalen verschwinden, werden Ersatzprodukte und neue Rezepte ausprobiert. Mit steigenden Einschränkungen werden Regeln umgangen, und mit einem zunehmend begrenzten Zugang zu Ressourcen suchen Menschen neue und einfallsreiche Wege, um sich selbst behilflich zu sein – eine Denkweise, die Russ*innen wohl smekalka nennen würden.

Smekalka ist in erster Linie eine Geisteshaltung. Man meistert Probleme, Aufgaben und Situationen, indem man flexibel und dynamisch weniger naheliegende Perspektiven auf sie einnimmt, ohne sich durch geistige Hemmnisse, konventionelle Regeln und traditionelle Normen beschränken zu lassen. Smekalka ist die Fähigkeit, die Welt um sich herum umzuformen und zu nutzen, um ein Ziel zu erreichen. Dies ist heute noch genauso essentiell wie zu Sowjetzeiten.


Renata Gußmann hat Osteuropastudien mit einem kulturwissenschaftlichen Schwerpunkt am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin studiert. In ihrer Masterarbeit untersucht sie den Begriff „smekalka“.