ZOiS Spotlight 10/2020

Russland: Verfassungsreform ist Absicherung und Risiko zugleich

Von Gwendolyn Sasse 11.03.2020
Kundgebung gegen die Verfassungsreform von Präsident Wladimir Putin am 19. Januar in Moskau. © Nikolay Vinokurov / Alamy Stock Foto

Am 22. April soll die Bevölkerung Russlands über die im Januar 2020 angekündigte und in Windeseile vollzogene Verfassungsreform abstimmen. Das Prozedere entspricht nicht dem in der derzeit noch gültigen Verfassung von 1993 vorgesehenen Verfahren für derart weitreichende Veränderungen. Auch bedeutet das geplante Referendum keine transparente Willensbekundung, denn das Ergebnis der Abstimmung steht von vornherein fest. Putin kann kein Votum gegen die Reform zulassen. Bestenfalls können die Wahlbeteiligung bzw. die Diskrepanz zwischen der offiziellen und der zu beobachtenden Teilnahme ein Gradmesser für das politische Interesse und die Stimmung in der Bevölkerung sein. Warum versucht Präsident Putin überhaupt, über diesen Umweg von Verfassungsreform und Volksabstimmung den Anschein gesellschaftlicher Legitimität zu verleihen?

Die Sukzessionsfrage ist seit jeher für autoritäre Systeme ein Risiko. Ein über längere Zeit hinweg stabiles autoritäres Regime kann sich auf einmal als erstaunlich instabil erweisen, wenn die das System zusammenhaltende Schlüsselfigur wegfällt. Der plötzliche Tod eines autoritären Machthabers ist der Extremfall, der über Nacht die Grundpfeiler des Systems erschüttert. Einen anderen Zeithorizont bietet ein potentieller Wechsel an der Spitze des politischen Systems, wie es in Russland zu beobachten ist. Hier besteht aus der Sicht der Machthaber die Gefahr, dass die Spekulation über einen möglichen Wechsel und die damit verbundene Unsicherheit unter den Eliten langsam die politische Stabilität erodieren. Diesem Risiko hat sich Präsident Putin nun entschieden entgegengestellt.

Autoritäre Machthaber reagieren auf verschiedene Weise auf diese Herausforderung. Manchen geht es vor allem um die Absicherung der eigenen Immunität, die ein handverlesener Nachfolger bieten kann – wie es im Jahr 2000 beim Machttransfer von Boris Jelzin auf Wladimir Putin der Fall war. Andere verlängern ihre Amtszeit – um einige Jahre, weitere Amtszeiten oder womöglich lebenslang. Wieder andere versuchen vor allem, den Prozess frühzeitig zu managen und sich verschiedene Optionen zu schaffen – so wie jetzt Putin. Genau zu dem Zeitpunkt, wo die Spekulationen über die Pläne des russischen Präsidenten im In- und Ausland zunehmen, reformiert er das System in aller Öffentlichkeit überraschend schnell und umfassend. Zugleich signalisiert er, dass er auch über 2024 hinaus die Weichen in Russland stellen wird. Sein Zeithorizont als Präsident hat sich nun offiziell auf 2036 erweitert, aber ihm bleiben auch andere Optionen der formellen und informellen Einflussnahme bei nun garantierter Immunität.

Wege zum Machterhalt

Putin reiht sich ein in die Reihe der autoritären postsowjetischen Präsidenten, die ihre Macht durch Verfassungsänderungen und andere informelle Mechanismen verlängert haben. So ließ sich der Vorgänger des jetzigen Präsidenten Usbekistans die Entscheidung, entgegen der Verfassung über seine zweite Amtszeit hinweg im Amt zu bleiben, durch das Volk absichern. In Kasachstan sicherte sich Präsident Nursultan Nasarbajew den Titel des „Führers der Nation“ durch eine Volksabstimmung und entkräftete so die Debatte um eine mögliche Verlängerung der Amtszeit des Präsidenten, bevor er 2019 vom Präsidentenamt in die Position des Vorsitzenden des inzwischen gestärkten Sicherheitsrats wechselte. Die Vorgänger des heutigen Präsidenten von Turkmenistan und der amtierende Präsident von Tadschikistan ließen sich durch Volksabstimmungen zu „Präsidenten auf Lebenszeit“ legimitieren. Autoritäre Machthaber weltweit lernen voneinander, aber auch von demokratischen Systemen. Neben dem Bemühen von Verfassungsreformen und dem Einsatz von Volksabstimmungen experimentieren einige von ihnen auch mit begrenzt kompetitiven Wahlen. Diese Elemente sollen dazu dienen, die Bevölkerung zufriedenzustellen, bergen jedoch ein gewisses Risiko für die Machthaber, das diese meinen kontrollieren zu können.

Die rasante Verfassungsreform in Russland ist ein klares Signal, dass Putin über 2024 hinaus die Schlüsselfigur in der russischen Politik bleiben wird. Nach der zweiten Lesung in der Duma am 10. März gibt es nun eine klare Begrenzung auf zwei Amtszeiten des Präsidenten. In Anwesenheit des Präsidenten stellte die Duma jedoch sogleich noch sicher, dass die Zeit mit der neuen Verfassung noch einmal neu beginnt und Putin somit im Amt bleiben könnte. Die im Januar zunächst angekündigte Stärkung des Parlaments, einschließlich des Föderationsrats, ist lediglich von nomineller Bedeutung. Vielmehr wird die Macht des Präsidenten weiter ausgebaut, vor allem gegenüber dem Verfassungsgericht. Die wichtigste Veränderung betrifft die aufgewertete Rolle des Staatsrats, eines zweiten Beratungsgremiums neben dem bisher sehr einflussreichen Nationalen Sicherheitsrat, dessen Befugnisse noch festgelegt werden müssen. Die Option, sich auf unbestimmte Zeit an dessen Spitze zu setzen, hat Putin selbst momentan ausgeschlossen, aber die Möglichkeit kann bei Bedarf in den nächsten vier Jahren wiederbelebt werden.

Alternativlosigkeit jenseits von Putin

Um sich selbst zu erhalten, durchlaufen autoritäre Regime Adaptionsprozesse und erfinden sich dabei immer wieder neu. In Russland hat Putin diesen Prozess nun proaktiv und mit perfektem Timing begonnen. Dennoch gibt es Risiken: Die öffentlich sichtbare Farce der Verfassungsdiskussion in einer Arbeitsgruppe aus Prominenten, die nun von noch größeren Widersprüchen gekennzeichnete Verfassung, Die Duma-Inszenierung von Putins expliziter Bejahung der Möglichkeit, über 2024 hinaus im Amt zu bleiben und die Volksabstimmung im April unterstreichen für alle gut sichtbar, wie lange Putin nun schon Präsident ist und wie groß seine Machtfülle ist. Politische Illusionen haben nur wenige im Land. Meinungsumfragen zeigen trotz nach wie vor hohem Zuspruch für Putins Politik – laut einer neuen Lewada-Umfrage trifft eher seine Politik als seine Person auf Zustimmung – einen diffusen Wunsch nach Veränderung, aber auch ein Gefühl von Alternativlosigkeit.

Am 28. Februar veröffentlichte Lewada Ende Januar erhobene Daten, denen zufolge ein Drittel der Bevölkerung die russische Verfassung generell für unbedeutend erachtet, eine klare Mehrheit von der geplanten Verfassungsreform gehört hat und knapp unter 50 Prozent der Befragten aussagen, dass die Verfassungsreform den Interessen des Präsidenten entspricht. Weitere knapp 50 Prozent derer, die von der Reform wissen, sehen sie als ein Mittel, das politische System auf die Interessen der Bevölkerung auszurichten.

Selbst ohne Manipulation wird die Verfassungsreform in der Volksabstimmung am 22. April allein dadurch Zustimmung erhalten, dass sie in einen Unterpunkt im hinteren Teil der Verfassung soziale Garantien in Bezug auf Mindestlohn und die Indexierung von Renten sowie eine Reihe von traditionellen Werten hineinschreibt, doch ist es eine Frage der Zeit, bis auch dieser Effekt mangels spürbarer Veränderungen schwindet. Die Erinnerung an die Verfassungsreform wird dann den Eindruck bestärken, dass der Präsident seine eigenen Interessen denen der Bevölkerung voranstellt. Erste kleinere Proteste gegen die Verfassungsreform hat es gegeben. Ob sich diese Stimmung mit den inzwischen regelmäßig stattfindenden Protesten über lokale Missstände im Land verbinden wird, ist eine offene Frage. Hier zeigt sich das Risiko, das jedem autoritären Lernen und Experimentieren mit Mitteln demokratischer Legitimierung innewohnt.


Gwendolyn Sasse ist die Wissenschaftliche Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS).