ZOiS Spotlight 44/2020

Religiöse Vielfalt in Georgien: eine Herausforderung auf dem Weg nach Europa?

Von Tsypylma Darieva 02.12.2020
Schild eines Geschäfts für religiöse Utensilien in Tbilisi, Georgien. © imago images / Steffen Schellhorn

Bei der Demokratisierung seines politischen Systems hat Georgien in den letzten zwei Jahrzehnten wichtige Fortschritte gemacht. So wurden Programme geschaffen, die etwa die ethnischen Minderheiten stärker integrieren und die Gesetzgebung mit internationalen Verpflichtungen in Einklang bringen sollen. Im Zuge eines laufenden Europäisierungsprozesses ratifizierte das Land zudem 2005 das europäische Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten und verabschiedete 2009 einen Nationalen Konzept- und Handlungsplan für Toleranz und zivile Integration. Die Unterzeichnung der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen steht zwar noch aus, wäre jedoch ein weiterer, unverzichtbarer Schritt für Georgiens Selbstverpflichtung zum Schutz von Minderheitenrechten.

Als zwei große Kategorien können sich ethnische und religiöse Minderheiten überschneiden, auch wenn dies nicht immer der Fall ist. Zu den zentralen Narrativen, die das nationale Selbstverständnis Georgiens prägen, gehören die Einheit der Orthodoxie sowie der georgischen Sprache und Heimat. Minderheiten stellen eine ganze Reihe an Herausforderungen für diese Identitätsvorstellungen dar. Umfragen zeigen etwa, dass die Beteiligung von ethnischen Minderheiten am öffentlichen Leben relativ gering ist. Dies zeigt sich besonders deutlich daran, dass sie kaum am politischen Diskurs des Landes teilhaben, und sowohl in den demokratisch gewählten Institutionen als auch in den staatlichen Behörden kaum repräsentiert sind.

Ein Sechstel der Bevölkerung Georgiens gehört einer ethnischen oder religiösen Minderheit an. Die größte Gruppe bilden die Aseris, die vor allem in den Regionen Kwemo Kartli und Kachetien leben, gefolgt von den Armenier*innen, die in der Region Samzche-Dschawachetien die Bevölkerungsmehrheit stellen. Beide Gruppen unterscheiden sich durch ihre Sprache und ihre Religion von der georgischen Mehrheitsbevölkerung. Während die Aseris turksprachige schiitische Muslime sind, gehören die ethnischen Armenier*innen hauptsächlich der Armenischen Apostolischen Kirche an. Daneben gibt es auch kleinere Gemeinden von Abchas*innen, Russ*innen, Assyrer*innen, Griech*innen, Jüd*innen und anderen Volksgruppen.

In vielen Fällen wird die politische Marginalisierung ethnischer Minderheiten durch mangelnde Kenntnisse der georgischen Sprache verstärkt. Es wäre jedoch falsch, zu behaupten, ethnische Minderheiten würden Georgien nicht als ihr Heimatland betrachten. Eine 2019 durchgeführte Umfrage des Kaukausus-Barometers hat gezeigt, dass die Georgier*innen gegenüber interethnischen Heiraten toleranter geworden sind. Ethnische Minderheiten weisen vor allem auf die wirtschaftlichen Probleme hin, mit denen sie konfrontiert sind, und berichten deutlich seltener als religiöse Minderheiten von Diskriminierungserfahrungen.  

Religiöse Minderheiten: nicht „georgisch genug“?

Georgien hat sich sichtlich bemüht, die gesetzlichen Rahmenbedingungen für eine gelebte religiöse Vielfalt zu verbessern. Die Verfassung des Landes garantiert allen Bürger*innen unabhängig von ihrer religiösen Zugehörigkeit Religionsfreiheit und Gleichberechtigung. Etwa 13 Prozent der georgischen Bevölkerung ist muslimisch (sunnitisch oder schiitisch), während drei Prozent der Armenischen Apostolischen Kirche angehören. Weitere circa drei Prozent sind römisch-katholisch, jesidisch, griechisch-orthodox, jüdisch oder gehören einer der zahlreicher werdenden, neuen religiösen Gruppen an, etwa den Baptist*innen, der Pfingstbewegung, den Zeugen Jehovas, der Internationalen Gesellschaft für Krishna-Bewusstsein oder den Bahai.

Religiöse Minderheiten einzubinden, ist jedoch ein komplizierter und holpriger Prozess. Seine Dynamik wird durch die existierenden Machtstrukturen bestimmt, die wiederum durch die privilegierte Stellung der Georgischen Orthodoxen Kirche geprägt sind. Weil die Orthodoxe Kirche, deren Beziehungen zum georgischen Staat durch ein Konkordat geregelt sind, sich als die einzig wahre Religion Georgiens betrachtet, klagen viele religiöse Minderheiten darüber, nicht gleichberechtigt behandelt zu werden.

Im Jahr 2011 passte Georgien sein Zivilgesetzbuch an, um es den größten und historisch stark mit dem Land verbundenen religiösen Minderheiten – Muslim*innen, Jüd*innen, römischen Katholik*innen, und Angehörigen der armenischen Kirche – zu ermöglichen, sich als Körperschaft öffentlichen Rechts registrieren zu lassen. Die Regierung reagiert damit auf die zunehmende Kritik von internationalen Organisationen und Menschenrechtsgruppen. Durch die Registrierung wird den Religionsgruppen jedoch kein privilegierter Status gewährt. Sie werden weiterhin als private Organisationen behandelt, und sind, anders als die Orthodoxe Kirche, nicht von der Eigentumssteuer befreit.

Die in Georgien herrschende religiöse Ungleichheit hat öffentliche Debatten über die Benachteiligung religiöser Minderheiten ausgelöst, vor allem in Fällen, in denen bestimmte Gruppen Schwierigkeiten hatten, ihrer religiösen Zugehörigkeit öffentlich Ausdruck zu verleihen. In einer Umfrage, die im August 2018 vom georgischen Zweig des Caucasus Research Resource Center durchgeführt wurde, wurden die Teilnehmer*innen gefragt, ob religiöse Vielfalt ihrer Meinung nach gut oder schlecht für ihr Land sei. Siebenundvierzig Prozent der Georgier*innen sahen die Kultur und Traditionen des Landes durch religiöse Vielfalt bedroht, während 31 Prozent der Meinung waren, dass sie das Leben in Georgien interessanter mache.

Die Bedeutung religiöser Stätten

Die Selbstwahrnehmung eines erheblichen Anteils der Angehörigen religiöser Minderheiten wird durch die Verhandlungen und Auseinandersetzungen dominiert, die in Georgien um religiöse Stätten und Gebetshäuser geführt werden. Dies zeigen ethnographische Beobachtungen und Umfragen, die im Rahmen eines ZOiS-Projekts durchgeführt wurden, das sich mit der religiösen Pluralisierung in Georgien beschäftigt. In vielen georgischen Städten treffen muslimische, armenisch-apostolische und katholische Gemeinden auf behördliche Widerstände, Genehmigungen für den Bau neuer oder die Sanierung existierender Gebets- und Gotteshäuser zu erhalten. So weigerte sich zum Beispiel die Stadtverwaltung im multireligiösen Batumi trotz wiederholter Anträge, den Bau einer neuen Moschee zu genehmigen. Der Konflikt um das Bauvorhaben ist bis heute ungelöst. Auch der Versuch römisch-katholischer Georgier*innen, eine neue Kirche im Zentrum der Stadt Rustawi zu errichten, hat sich als aussichtslos erwiesen.

Marginalisierend wirkt sich auch die Uneinigkeit über historische und religiöse Stätten aus, die während der Sowjetzeit enteignet wurden und nun von der armenisch-apostolischen und der römisch-katholischen Kirche beansprucht werden. Im Allgemeinen spielt die Orthodoxe Kirche eine entscheidende Rolle dabei, die historischen Eigentümer*innen umstrittener religiöser Orte zu bestimmen. Zum Beispiel befinden sich mehrere ehemalige katholische Kirchen immer noch im Besitz der Georgischen Orthodoxen Kirche. Obwohl die Regierung Georgiens die selbstgesteckten rechtlichen Rahmenbedingungen ernstnimmt, mit denen die Toleranz für religiöse Vielfalt im Land gestärkt werden soll, herrscht auf der lokalen Ebene oft Verunsicherung. Aus Loyalität gegenüber der Orthodoxen Kirche missachten Behörden oftmals die entsprechenden gesetzlichen Bestimmungen.

Auch tragen widersprüchliche Regelungen dazu bei, religiöse Minderheiten weiter zu marginalisieren und sorgen für Spannungen innerhalb der georgischen Gesellschaft. So bekennt sich der georgische Staat zum Beispiel einerseits zu Religionsfreiheit und Gleichberechtigung, gewährt aber andererseits der Georgischen Orthodoxen Kirche einen privilegierten Status. Die herrschende Elite Georgiens steht vor der Herausforderung, neue Modelle politischer Integration zu entwickeln und eine inklusivere nationale Identität zu schaffen, die die Möglichkeit schützt, georgisch und zugleich nicht orthodox zu sein. Eine solche Transformation könnte, wenn sie erfolgreich ist, dazu beitragen, die im Zuge der angestrebten Europäisierung notwendigen strukturellen Veränderungen voranzutreiben.


Tsypylma Darieva ist Sozialanthropologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZOiS, wo sie den Forschungsschwerpunkt „Migration und Diversität“ leitet.