ZOiS Spotlight 19/2020

Die schwierige Situation von Ausländer*innen in Russland in der Corona-Krise

Von Olga Gulina 13.05.2020
Ein Mieter in einer illegalen Herberge für Gastarbeiter*innen in der Nähe von Sankt Petersburg. © imago images/ Peter Kovalev / ITAR-TASS

Um die Verbreitung des Coronavirus einzudämmen, schloss Russland am 18. März die Grenzen und schuf damit einen unsicheren Rechtsstatus für Ausländer*innen und Staatenlose im Land. Hinzu kommt, dass die Rechte diverser Migrant*innengruppen auf verschiedene Art verletzt wurden, was zu einer chaotischen Situation führte.

Arbeitsmigrant*innen aus früheren Sowjetrepubliken 

Nach Angaben des russischen Grenzschutzes kamen 2019 3,8 Millionen Bürger*innen aus postsowjetischen Staaten als Arbeitsmigrant*innen nach Russland. Die meisten von ihnen stammten aus Kirgistan, Tadschikistan und Usbekistan und waren gering qualifizierte Arbeiter*innen, die im Baugewerbe (32 Prozent), im Dienstleistungssektor (17 Prozent), im Handel (9 Prozent) oder im Transportwesen (5 Prozent) beschäftigt sind.

Diese Sektoren der russischen Wirtschaft werden durch Arbeitsmigration dominiert und durch kleine und mittelständische Unternehmen geprägt. Weder die Arbeitgeber*innen noch die Arbeitnehmer*innen in diesen Sektoren verfügen über ein Liquiditätspolster. Es ist für die Betroffenen also nahezu unmöglich, ohne ein Einkommen Löhne, Steuern oder Mieten zu zahlen.

Einen Monat, nachdem Präsident Wladimir Putin eine bezahlte, arbeitsfreie Zeit angekündigt hatte und führende Regionalvertreter*innen die Russ*innen dazu aufgefordert hatten, sich selbst zu isolieren und den Betrieb von Lebensmittel- und Einzelhandelsgeschäften einzuschränken, ergriffen die russischen Behörden einige Maßnahmen, um Arbeitsmigrant*innen zu schützen. Auf persönliche, schriftliche Anfragen der Antragssteller*innen hin wurden Aufenthaltsgenehmigungen, Visa, und Arbeitspatente [1] verlängert. Die Gültigkeit von Bescheinigungen über die Teilnahme am staatlichen Repatriierungsprogramm [2] von Asylanträgen, und Arbeitserlaubnissen [3] wird bis auf weiteres automatisch verlängert. Außerdem wurden Arbeitsmigrant*innen vom 15. März bis 15. Juni davon befreit, Gebühren für die Arbeitspatente zu zahlen.

Trotz dieser Schritte stellen Arbeitsmigrant*innen weiterhin eine vulnerable Gruppe dar. Ihnen drohen die Entlassung und der Verlust des Einkommens. Außerdem könnten sie mit fehlender, medizinischer Unterstützung konfrontiert sein, falls sie an Covid-19 erkranken, da die medizinische Versorgung für Arbeitsmigrant*innen nicht kostenlos ist.

Ausländer*innen in Haft

Ende März gab der Menschenrechtsrat beim russischen Präsidenten eine Mitteilung heraus, die beschreibt, wie im ganzen Land Ausländer*innen, insbesondere staatenlose Menschen und solche, die sich geringfügiger Vergehen schuldig gemacht haben, vorübergehend inhaftiert wurden. Aufgrund der geschlossenen Grenzen sind die Hafteinrichtungen mit Ausländer*innen überfüllt und unsicher geworden. Eine Gruppe russischer Menschenrechtsaktivist*innen unterzeichnete eine Petition, die die Behörden dazu auffordert, alle Ausländer*innen aus der Haft zu entlassen, um das Leben und die Gesundheit der Gefangenen und der Mitarbeiter*innen zu schützen.

Bereits 2017 entschied das russische Verfassungsgericht, dass es, ungeachtet ihres Aufenthaltsstatus, einen willkürlichen und rechtswidrigen Freiheitsentzug darstelle, eine Person vorübergehend in Gewahrsam zu nehmen. Trotzdem haben regionale und föderale Behörden bisher keine Schritte unternommen, um die aktuelle Überbelegung zu reduzieren, wodurch tausende Ausländer*innen der Gefahr ausgesetzt sind, an Covid-19 zu erkranken.

Darüber hinaus hat das russische Innenministerium einen Gesetzesentwurf vorgelegt, um eine von der Regierung geführte Liste von sechzehn Krankheiten abzuändern, die als Gründe ausreichen, um Ausländer*innen aus Russland abzuschieben. Dem Gesetzesentwurf zufolge soll Covid-19 die Liste, auf der auch Pest, Cholera, Tuberkulose und HIV stehen, ergänzen. Aufgrund der Grenzschließungen, insbesondere zwischen Russland und seinen postsowjetischen Nachbarstaaten, werden Ausländer*innen, die unter einer der gelisteten Krankheiten leiden, in Gewahrsam genommen, bevor es möglich ist, sie abzuschieben. Die Anzahl temporärer Häftlinge wird also wahrscheinlich im ganzen Land weiter steigen.

Bürger*innen mit doppelter Staatsangehörigkeit

Seit 2014 müssen alle russischen Staatsbürger*innen es den Behörden melden, wenn sie eine doppelte Staatsbürgerschaft oder eine Aufenthaltsgenehmigung eines anderen Landes besitzen. 2019 hatten 543.000 Russ*innen dies getan. Mit der Schließung der russischen Grenzen am 18. März wurden Doppelstaater*innen, die in Russland leben, eingeschlossen. In russischen Medien wurde über Russ*innen mit zypriotischem, finnischem, schwedischem oder einem anderen Pass berichtet, die Schwierigkeiten hatten, das Land zu verlassen.

Am 29. April passte die Regierung die Verordnungen zur Freizügigkeit russischer Staatsangehöriger an, um es jenen mit doppelter Staatsbürgerschaft oder einer Aufenthaltsgenehmigung eines anderen Landes einmalig zu erlauben, das Land zu verlassen. Es ist unklar, wie lange diese Maßnahme in Kraft bleiben wird. Momentan können nur Ausländer*innen und staatenlose Menschen Russland ohne Einschränkungen verlassen.

Insgesamt hat die Coronavirus-Pandemie einen rechtlichen Flickenteppich geschaffen, der manche Ausländer*innen in Russland besser schützt als andere. Die Führung des Landes hat nur begrenzt Bereitschaft gezeigt, die Rechte von Migrant*innen und Ausländer*innen als einen Teil ihrer Antwort auf das Virus anzuerkennen und zu stärken.


[1] Seit Januar 2015 wurde visabefreiten, ausländischen Staatsbürger*innen aus GUS-Ländern wie Aserbaidschan, Armenien, Kirgistan, Moldawien, Usbekistan, Ukraine und Tadschikistan ein Arbeitspatent ausgestellt, das bestätigt, dass die Person berechtigt ist, für eine befristete Zeit in Russland zu arbeiten.

[2] Russlands Repatriierungsprogramm zielt darauf ab, die russischsprachige Bevölkerung aus den unabhängigen postsowjetischen Ländern nach Russland als deren “historisches Heimatland” zurückzuholen.

[3] Eine Arbeitserlaubnis ist ein Dokument, welches bestätigt, dass ausländische Staatsbürger*innen das Recht besitzen, zu arbeiten, und kann nur im Rahmen eines jährlichen Kontingents ausgestellt werden, das von der Zentralregierung festgesetzt und vom Ministerium für Arbeit und soziale Sicherheit unter verschiedenen Berufsgruppen in den russischen Regionen aufgeteilt wird.


Dr. Olga R. Gulina ist Gründerin und Direktorin des RUMSPI UG – Instituts für Migrationspolitik.