ZOiS Spotlight 40/2019

Säkularismus und Islam: Religionsunterricht in Aserbaidschan

Von Tsypylma Darieva 30.10.2019
Gläubige in einem Schrein der Bibi-Heybat-Moschee, ein wichtiger Pilgerort und schiitischer Gebetsraum in der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku. Tsypylma Darieva

Die aserbaidschanische Regierung plant, einen obligatorischen Religionsunterricht  in die Lehrpläne der Sekundarstufen und Universitäten aufzunehmen. Diese Ankündigung wurde in Aserbaidschan mit Skepsis aufgenommen. Mübariz Qurbanlı, der Vorsitzende des Staatlichen Komitees für die Zusammenarbeit mit religiösen Organisationen erklärte, der angekündigte Kurs sei ein wichtiges Instrument, um der Gesellschaft bessere und genauere Informationen über das religiöse Leben im modernen Aserbaidschan zu vermitteln. Von den Universitäten und Sekundarschulen wird nun erwartet, dass sie die Geschichte und Bedeutung des Islam ebenso unterrichten wie die des Christentums und des Judentums: Der Lehrplan soll von staatlich unterstützten Institutionen ausgearbeitet werden, etwa vom Staatlichen Komitee für die Zusammenarbeit mit religiösen Organisationen (Azərbaycan Respublikasi Dini Qurumlarla Iş üzre Dövlet Komitəsi), dem Internationalen Zentrum für Multikulturalismus Baku (Bakı Beynəlxalq Multikulturalizm Mərkəz) oder der Verwaltung der Muslime des Kaukasus (Qafqaz Muselmanlari Idaresi), einer Organisation mit sowjetischer Tradition.

Ziel dieses Schrittes ist es, die säkulare Politik eines Multikulturalismus des Staates voranzutreiben, ohne den Islam politisch zu privilegieren, während gleichzeitig radikalen und fundamentalistischen Bewegungen entgegengewirkt werden soll. Die Religionsstunden sollen von einem säkularen und modernen Standpunkt aus unterrichtet werden. Die Ansätze sollen die Perspektive der life sciences umfassen, die europäische Aufklärung, den Atheismus sowjetischer Art und die Urknalltheorie. Außerdem soll der Lehrplan muslimische und christliche eschatologische Deutungen enthalten sowie die Ansichten und die Propagandamethoden radikaler religiöser Bewegungen untersuchen. Auf jeden Fall hat der erste Entwurf des Lehrbuchs im Frühjahr 2019 eine Kontroverse ausgelöst, da viele Eltern dies als religiöse Propaganda auffassten, die der Staat ihren Kindern aufnötige.

Restriktive Politik

Die Bevölkerung in Aserbaidschan ist – in der Regel aufgrund ethnischer Zugehörigkeit – als muslimisch identifiziert, eine beträchtliche Mehrheit sind Schia- Muslim*innen. Obwohl die Bevölkerung nur zu fünf Prozent aus Nichtmuslim*innen besteht, betont der aserbaidschanische Staat zunehmend seinen multireligiösen und multikulturellen Charakter, um religiösem Aktivismus von unten zu begegnen. Die Regierung hat die Kontrolle über das religiöse Leben durch restriktive Maßnahmen erheblich intensiviert, indem muslimische religiöse Praktiken im öffentlichen Raum als eine „Gefahr von Außen“ (insbesondere durch den benachbarten Iran) unterdrückt oder gar kriminalisiert wurden.

Nach Ansicht der aserbaidschanischen Eliten sollte der Islam eher als lokales kulturelles Element beibehalten werden, denn als soziale Komponente menschlicher Identität. Genauer gesagt, geht es hier um einen kulturellen Islam als Teil eines Erbes und einer „Tradition“, die vom Staat orchestriert werden sollte. Religion sollte demzufolge etwas sein, das aufgrund einer individuellen Entscheidung seinen Ausdruck findet und sich auf persönliche Rituale beschränkt, auf Hochzeiten, Begräbniszeremonien, Besuche heiliger Stätten und die Verehrung lokaler Heiliger. Die aserbaidschanischen Behörden hatten zwischen 2006 und 2008 eine Reihe islamischer Fernsehsendungen abgesetzt. 2010 wurde das Verbot erlassen, in öffentlichen Institutionen und Schulen den Hidschab (Kopftuch) zu tragen. Danach wurde ein Verzeichnis religiöser Literatur eingeführt, deren Import, Produktion, Verkauf oder Verbreitung ohne eine Genehmigung des Staatlichen Religionskomitees verboten ist.

Darüber hinaus wurden 2015 und 2017 in Aserbaidschan Änderungen am Gesetz über Religionsfreiheit vorgenommen. Dadurch wurden strenge Anforderungen für eine Neuregistrierung sowie bürokratische Prozeduren eingeführt, die als Instrumente staatlicher Kontrolle über religiöse Gruppen dienen. Durch einen Präsidialerlass sind religiöse Symbole, Slogans und öffentliche Zeremonien nur innerhalb von Gebetshäusern erlaubt. Damit ist auch das traditionelle Aschura-Trauerritual außerhalb der Innerhöfe der Moscheen in Aserbaidschan verboten. Das Gleiche gilt für die Osterprozessionen der orthodoxen Christen vor den Kirchen.

Herausforderungen

Im vergangenen Jahrzehnt haben die Eliten in Aserbaidschan den Islam als eine politische Herausforderung betrachtet, die den Staat zum Eingreifen zwinge. Es müsse daher ein neuer säkularer Islam geschaffen werden, etwa durch vom Staat geförderte Moscheen, die die Gesellschaft zwischen Ost und West ausbalancieren. Altay Göyüşov, Leiter des Baku Research Institute, äußert sich in Bezug auf die Effektivität dieser Herangehensweise skeptisch, indem er die jüngsten vom Staat unterstützten Maßnahmen mit den sowjetischen Versuchen verglich, religiöse Ideologie zu kontrollieren, was aber den „Untergrundislam“ nicht hatte beseitigen können. Lehrer*innen in den Schulen und Dozent*innen an den Universitäten klagen über den Mangel an professionell verfassten Lehrbüchern, die im Kontext einer multikulturellen Gesellschaft ein ausgewogenes Niveau an religiösem Wissen vermitteln würden.

Die Regierung in Aserbaidschan steht vor zwei ernsten Herausforderungen: Zum einen muss sie einen Inhalt der Lehrpläne regulieren, der für unterschiedliche religiöse Trends passt. Zweitens muss sie qualifizierte Lehrer*innen finden, die für Fragen religiöser Vielfalt ausgebildet sind. Religiös geprägte Lebensweisen scheinen in Baku auf dem Vormarsch zu sein und sind Teil des sichtbaren urbanen Lebensstils, der durch Parfüm, Kosmetik, Halal–Restaurants, Hidschab-Moden und Agenturen, die Pilgerreisen nach Iran und Saudi–Arabien anbieten, verkörpert wird.

Angesichts der autoritären Bestrebungen Aserbaidschans, eine eigene Version einer „richtigen“ Religion zu schaffen dürfte der Staat wohl die Religiosität an der Basis der Gesellschaft als „falsch“ betrachten und als traditionsfernen, ausländischen Einfluss hinstellen. Die Einführung religiöser Erziehung als Pflichtfach ist ein Ausdruck der aserbaidschanischen Doktrin, die Säkularismus zu stärken sucht, indem Religion als Marker nationaler Identität herabgestuft wird.


Tsypylma Darieva ist Sozialanthropologin am ZOiS, wo sie unter anderem das Projekt Transformation urbaner Räume und religiöse Pluralisierung im Südkaukasus entwickelt.