ZOiS Spotlight 3/2019

Neue Verfolgungswelle gegen LGBTI* in Tschetschenien

Von Regina Elsner 23.01.2019
Solidaritätskundgebung mit der tschetschenischen LGBTI*-Community vor der Russischen Botschaft in Berlin im April 2018. imago/snapshot

Am 14. Januar 2019 veröffentlichte das russische LGBT Network eine Eilmeldung über eine neue Verhaftungswelle von schwulen und lesbischen Menschen in Tschetschenien. Über 40 Personen seien verhaftet, zwei bereits zu Tode gefoltert worden. Wenige Tage später bestätigte die Nowaja Gaseta die Berichte durch eigene Recherchen. Elena Milaschina, Korrespondentin der Nowaja Gaseta, hatte im Jahr 2017 mit umfassenden Untersuchungen vor Ort und zahlreichen Gesprächen mit Betroffenen ein groß angelegtes Vorgehen gegen sexuelle Minderheiten in Tschetschenien nachgewiesen und publik gemacht. Im Unterschied zu den damaligen Ereignissen handle es sich diesmal nach ihren Beobachtungen nicht um ein koordiniertes Vorgehen der staatlichen Organe, sondern um die Initiative lokaler Strukturen. Damals waren über hundert Personen aufgrund ihrer vermuteten oder tatsächlichen sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität in speziellen Foltergefängnissen inhaftiert und gefoltert worden, mehrere Personen starben. Nach Angaben des LGBT-Network haben sich seit April 2017 mehr als 150 betroffene Personen gemeldet, 130 Personen konnten durch die Unterstützung der NGO aus der Region ausreisen, viele haben in Europa und Nordamerika Asyl beantragt.

Die Nachrichten aus Tschetschenien hatten im April 2017 für eine internationale Solidaritätswelle gesorgt. Durch den internationalen Druck konnte das Vorgehen der lokalen Machthaber zumindest zeitweise unterbunden werden. Allerdings wurde bisher kein einziges Strafverfahren eröffnet, eine gerichtliche Untersuchung wurde durch die Ombudsfrau für Menschenrechtsfragen Tatjana Moskalkowa angekündigt, führte jedoch zu keinem Ergebnis. Ramsan Kadyrow, Präsident der tschetschenischen Republik, sowie weitere tschetschenische Sprecher hatten mehrfach erklärt, dass es in Tschetschenien keine „Sodomiten“ gebe, und Familien aufgefordert, mit aller Härte gegen schwule Familienmitglieder vorzugehen, um „das tschetschenische Blut zu reinigen“.

LGBTI*-Diskriminierung in Russland

Die Diskriminierung und Verfolgung von LGBTI*-Personen hat in Russland seit 2011 massiv zugenommen. Während bestimmte kulturelle Normen – traditionelle Geschlechterrollen und Familienwerte sowie ein toxisches Männlichkeitsideal – in den vergangenen Jahren durch die politische Strategie „traditioneller moralischer Werte“ gesellschaftlich verstärkt wurden, wuchsen für Organisationen, die sich dem Schutz von Menschenrechten und der Aufklärungsarbeit widmen, die administrativen Hürden. Das Gesetz über das „Verbot der Propaganda nicht-traditioneller sexueller Beziehungen“ verbietet jegliche öffentliche neutrale Information über Homosexualität und macht LGBTI*-Personen in der Gesellschaft unsichtbar. Alltagsdiskriminierung am Arbeitsplatz und in Schulen, polizeiliche Willkür, Demonstrationsverbote, Suizidalität und Gewalt gegen LGBTI* nahmen russlandweit stark zu. Gleichzeitig gibt es keinerlei rechtliche Mechanismen zum Schutz von LGBTI* als soziale Gruppe, Gewaltverbrechen und Diskriminierungen aufgrund sexueller Orientierung oder Gender-Identität gelten damit als Alltagsdelikte zwischen Privatpersonen. Die meisten Fälle kommen jedoch ohnehin nie zur Anzeige, da die Opfer Angst vor zusätzlicher polizeilicher Aggression haben müssen.

Die große internationale Aufmerksamkeit, die der russische Umgang mit LGBTI*-Personen in den Jahren 2012 und 2013 erhielt, hatte keine grundsätzliche Änderung der Politik erreicht, jedoch für eine gewisse Vorsicht der staatlichen Organe gesorgt. Einzelne erlaubte öffentliche Aktionen gegen LGBTI*-Diskriminierung und das Ausbleiben koordinierter Gewalt dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die gesellschaftliche Stimmung nach wie vor einen offenen Umgang mit Homosexualität nicht zulässt. Besonders Jugendliche und Familien mit Kindern leiden unter massiven Vorurteilen und sind durch systematische Diskriminierungen im Alltag gefährdet.

Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien

Für die russische Teilrepublik Tschetschenien potenziert sich diese ohnehin prekäre Lage von LGBTI*. Obwohl Tschetschenien als reguläres Subjekt der Russischen Föderation den Gesetzen und Maßstäben russischer Rechtsprechung unterliegt, hat sich in den vergangenen Jahrzehnten ein paralleles System entwickelt, das von der russischen Regierung akzeptiert wird. Teil dieser parallelen Strukturen sind die absolute Ignoranz von Menschenrechten und der Ersatz von Rechtsnormen durch traditionelle Vorstellungen von Ehre und patriarchaler Hierarchie. Internationale Menschenrechtsorganisationen kritisieren seit Jahrzehnten schwere Menschenrechtsverletzungen im Umgang mit Andersdenkenden. Dazu gehören fabrizierte Gerichtsverfahren, Folter und Erpressung von Geständnissen sowie Ehrenmord. Für internationale Aufmerksamkeit sorgte im Januar 2018 die Verhaftung von Ojub Titijew, Regionalvorsitzender der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial in Grosny.

Die Verfolgung aufgrund sexueller Orientierung oder Gender-Identität in Tschetschenien zeigt die unheilvolle Verstrickung fehlender Rechtssicherheit und traditioneller Wertevorstellungen. Personen, die beispielsweise als angeblich schwul verhaftet oder verfolgt werden, verlieren gleichzeitig den Schutz durch die Familie, die sich mit allen Mitteln bis hin zum Mord gegen ein schwules Familienmitglied wehren wird. Diese umfangreiche gesellschaftliche Stigmatisierung begrenzt die sozialen Aktivitäten auf Internetgruppen, die jedoch systematisch für Denunzierungen und Verfolgung missbraucht werden.

Mehrfach hatten internationale Organisationen wie die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) und der Europarat Russland aufgefordert, Menschenrechtsverletzungen entsprechend der internationalen Verpflichtungen zu beenden. Da eine Reaktion ausblieb, löste die OSZE im November 2018 schließlich den sogenannten „Moskau Mechanismus der menschlichen Dimension“ aus. Unabhängig von Moskaus Zustimmung wurden u.a. die Vorwürfe der gezielten Verfolgung von LGBTI* untersucht. Der Bericht liegt seit Anfang 2019 vor und bestätigt die massiven Vorwürfe. Die neue Verfolgungswelle könnte auch eine Reaktion auf den Bericht sein, um weitere Opfer von Zeugenaussagen abzuhalten.

Weder die russische noch die tschetschenische Regierung hatten die Untersuchung unterstützt, dem zuständigen Experten war die Einreise verweigert worden. Russische Menschenrechtsaktivist*innen schätzen die Wirkung des Berichts auf das russische oder tschetschenische Rechtssystem pessimistisch ein. Solche Untersuchungen könnten höchstens die gröbsten Verletzungen verhindern und verdeutlichen, dass die internationale Gemeinschaft die Lage aufmerksam verfolgt. Einen wirksamen Schutz der Opfer oder eine effektive Bestrafung der Täter sei jedoch nicht zu erwarten. Russland stellt nationales Recht vor internationales Recht und Tschetschenien genießt darüber hinaus einen besonderen Schutz der russischen Regierung. Am 17. Januar 2019 entschied die russische Duma, weiterhin keine Delegation zur Parlamentarischen Versammlung des Europarates zu entsenden. Es ist damit unklar, ob Russland überhaupt Mitglied des Europarates bleibt und die damit zusammenhängenden Verpflichtungen wahrnehmen wird.

Unsichtbar heißt schutzlos

Viele Betroffene versuchen, der ausweglosen Situation in Tschetschenien durch Flucht zu entkommen. Obwohl die Lage von Andersdenkenden in Tschetschenien umfassend dokumentiert ist, sind sie jedoch auch im deutschen Asylsystem mehrfachen Diskriminierungen ausgesetzt. Dazu gehört einerseits die pauschale Wahrnehmung von tschetschenischen Flüchtlingen als islamistische Gefährder, die den Beweisdruck auf die oft mehrfach traumatisierten Flüchtlinge erhöht. Andererseits setzt sich die Diskriminierung innerhalb der Gruppe tschetschenischer Flüchtlinge fort. Seit vielen Jahren fordern Flüchtlingsorganisationen einen effektiveren Schutz von LGBTI*-Personen im Asylverfahren, darunter LGBTI*-sensible Verdolmetschung von allen Befragungen, Schulungen der Mitarbeiter*innen in Flüchtlingseinrichtungen und die Einrichtung von Schutzräumen und speziellen Unterkünften für besonders gefährdete Flüchtlingsgruppen. Ohne solche gezielten Maßnahmen bleiben die LGBTI*-Flüchtlinge wie in ihrer Heimat Tschetschenien unsichtbar und damit schutzlos.


Regina Elsner ist Theologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZOiS. In ihrem Forschungsprojekt beschäftigt sie sich mit dem sozialethischen Diskurs der Russischen Orthodoxen Kirche zwischen theologischer Souveränität und politischer Anpassung.