ZOiS Spotlight 27/2019

Kritische Kunstmärchen

Von Nina Frieß 10.07.2019
Die „Kasachstanischen Märchen“ von Yuriy Serebryansky. ZOiS

Kasachstan ist der ethnisch diverseste Staat im postsowjetischen Raum. Die letzte offizielle Volkszählung von 2009 listet Angehörige von 125 verschiedenen Ethnien auf, die in dem zentralasiatischen Land leben. Zwar kam es auch in Kasachstan nach der Unabhängigkeit 1991 zu einer Renationalisierung und zu einer Aufwertung all dessen, was als kasachisch identifiziert werden konnte. Im Unterschied zu anderen sowjetischen Nachfolgestaaten betonte die politische Elite des Landes bislang aber stets, dass Kasachstan die Heimat aller kasachstanischen Bürger*innen sei, unabhängig von ihrer Herkunft. Dennoch konnte sich die Idee einer staatsbürgerlichen, ethnisch inklusiven Identität, wie sie sich im Begriff „Kasachstaner*in“ spiegelt, bislang nicht durchsetzen.

Im Jahr 2017 erschien in Kasachstan ein Buch, das sich als Versuch verstehen lässt, allen Bürger*innen Kasachstans unabhängig von ihrer ethnischen Herkunft ein Identitätsangebot zu machen: die Kasachstanischen Märchen Yuriy Serebryanskys. Der Autor stammt selbst aus einer multiethnischen Familie und hat unter anderem polnische Wurzeln. Seine als Kinderbuch vermarktete Sammlung von Kunstmärchen erschien in russischer Sprache mit einer im selben Buch enthaltenen kasachischen Übersetzung – ein Novum auf dem kasachstanischen Buchmarkt, das den integrativen Anspruch des Buchs unterstreicht, ist es durch seine Zweisprachigkeit doch nahezu allen Kasachstaner*innen verständlich.

Reale Phänomene, phantastische Elemente

Im Mittelpunkt von Serebryanskys Kasachstanischen Märchen stehen reale Phänomene (beispielsweise die Verlandung des Aralsees), kulturelle Artefakte (zum Beispiel die Flagge Kasachstans) oder konkrete Orte (häufig Almaty), die kasachstanischen Leser*innen aus ihrem Alltag bekannt sind. Diese setzt der Autor in eine fiktive Welt, die er teilweise mit phantastischen Elementen anreichert, etwa mit Gottheiten, Zauberei oder vermenschlichten Tieren. So verschwindet in einem Märchen der Aralsee (auf Russisch: „Aralmeer“), weil er sich auf die Suche nach seinem Vater, dem Ozean, und seinen Brüdern, den Weltmeeren, macht. Dabei geht es nicht darum, den Menschen aus seiner Verantwortung für eine der größten ökologischen Katastrophen der Region zu entlassen, sondern vielmehr um die Schaffung von Aufmerksamkeit für das Thema. Die Pointe des Texts soll vor allem das primäre Zielpublikum des Märchenbuchs – Kinder – zum Nachfragen und Nachdenken animieren. Eine Aufforderung zum Handeln enthält der Text nicht.

Ein anderes Märchen schildert, wie ein König eine Stadt an einem Berghang errichten lässt und über ein Kanalsystem per Flaschenpost Nachrichten an seine Untertan*innen schickt. Der König wundert sich, dass er niemals Antwort erhält, führt das aber auf die generelle Zufriedenheit der Menschen zurück – auf die Idee, dass eine Flaschenpost nicht gegen die Strömung den Berg hinaufschwimmen kann, kommt er nicht. Die aus diesem Märchen herauszulesende Herrschaftskritik lässt sich ohne weiteres auf das reale Kasachstan übertragen, wo die Kommunikation zwischen der politischen Elite und den Bürger*innen ebenfalls eine einseitige ist. Abgemildert wird die Kritik in dem Märchen durch die überaus wohlwollende Darstellung des Königs, der als gütiger, um seine Untertan*innen aufrichtig besorgter Herrscher erscheint, der aber soweit über den Dingen schwebt, dass er einfache Naturgesetze aus den Augen verliert.

Es sind diese Elemente des Wiedererkennens und der Dechiffrierung, die den besonderen Reiz und gleichzeitig das verbindende Moment der Texte ausmachen: wer in der Lage ist, den kulturellen Code der Märchen zu knacken, gehört zur Gemeinschaft dazu. Dafür reicht es aus, mit den kasachstanischen Gegebenheiten vertraut zu sein. Genau darin liegt das Identitätsangebot, das Serebryansky seinen Leser*innen unabhängig von ihrem Alter und ihrer Herkunft macht.

„Zulässige“ Sozialkritik

Die leise, aber für eine mit dem kasachstanischen Alltag vertraute Person unschwer erkennbare Sozialkritik der Kasachstanischen Märchen ist dahingehend bemerkenswert, als dass Meinungs- und Pressefreiheit in Kasachstan durch den Staat massiv eingeschränkt werden. Doch während sich Journalist*innen und Blogger*innen in Kasachstan Zensur und Repressionen ausgesetzt sehen, beurteilen kasachstanische Literaturschaffende ihre Lage als hinreichend frei, wie ich im Mai und Juni 2017 in einer Reihe von Interviews mit kasachstanischen Autor*innen in Almaty und Astana (heute Nur-Sultan) erfahren konnte. Serebryansky selbst sagt im Interview im April 2019, die kritischen Elemente, die es in seinem Buch gebe, hätten keine staatlichen Reaktionen hervorgerufen und seien somit wohl „zulässig“ gewesen. Tatsächlich wurde sogar ein Text der Kasachstanischen Märchen für eine Anthologie zeitgenössischer kasachstanischer Literatur ausgewählt, die in die sechs UN-Sprachen übersetzt und weltweit vermarktet werden soll. Auch wenn dafür eine in den Worten des Autors „ziemlich unkomplizierte Geschichte“ ausgewählt wurde, zeigt die Aufnahme in dieses kulturpolitische Großprojekt doch, dass zumindest die kulturpolitische Elite des Landes die Kasachstanischen Märchen wahrgenommen hat und bereit war, Kritik auf diesem Niveau zuzulassen.

Zu erklären ist die relative Freiheit der Literatur in Kasachstan vor allem durch die abnehmende Bedeutung, die ihr politische Eliten – im gesamten postsowjetischen Raum – zuschreiben. Während Literatur zu Sowjetzeiten ein wichtiges staatliches Propagandainstrument war und entsprechend engmaschig überwacht wurde, erfüllen heute Fernsehen und Internet diese Funktion. Für die Literatur eröffnen sich damit Freiräume, die andere Medien aktuell nicht haben. Allerdings erreicht Literatur eben auch längst nicht mehr so viele Menschen wie zu Sowjetzeiten.

Im Interview betont Serebryansky, er habe kein politisches Buch schreiben wollen. In der Tat enthält das Buch kein politisches Programm, keinen Entwurf für ein anderes Kasachstan oder gar einen Aufruf zu politischen Aktivitäten. Das wäre bei allem Desinteresse der Herrschenden an der Literatur in Kasachstan nicht druckbar gewesen. Mit der Idee, eine Folklore für alle Kasachstaner*innen unabhängig von ihrer Herkunft zu schaffen und ihnen damit gleichzeitig ein Identitätsangebot zu machen, sind die Kasachstanischen Märchen in Zeiten des zunehmenden Nationalismus aber ein Bekenntnis zu einer offenen, toleranten und multikulturellen Gesellschaft – und damit durchaus ein politisches Statement.


Nina Frieß ist Slavistin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZOiS. Das vorliegende Spotlight ist eine Kurzfassung ihres in Kürze erscheinenden ZOiS Reports „‘Kasachstanische Märchen‘ – ein literarisches Identitätsangebot für alle Kasachstaner*innen“.