ZOiS Spotlight 10/2019

Die Krim: zwischen Politik und Kultur

Von Tatjana Hofmann 13.03.2019
Die Dichter Andrej Poljakow (re.) und Jurij Kublanovskij bei einer Lesung im Rahmen des Woloschin-Festivals auf der Krim. Alexander Barbukh

Vor fünf Jahren brach die Krimkrise aus – ein Ausläufer des Euromaidan und des Sturzes des damaligen Präsidenten Wiktor Janukowitsch. Mit Hilfe russischer Spezialeinheiten führte die Regierung der Krim ein Referendum über die Zugehörigkeit der Halbinsel durch. Die Mehrheit der lokalen Bevölkerung sprach sich für die Vereinigung der Halbinsel im Schwarzen Meer mit Russland aus. Die Krim gehörte ab 1783 zum Russischen Reich, in der Sowjetunion ab 1954 zur Ukrainischen SSR und nach 1991 zur unabhängigen Ukraine, wo sie einen Autonomiestatus erhielt.

Wie wirkt sich diese Zäsur auf die Kulturszene der Krim aus? Auf den ersten Blick nicht dramatisch, doch zumindest verleiht sie ihr keinen Aufschwung, obwohl dieser als Kommentar zur politischen Debatte wünschenswert wäre. Nach wie vor gelten die drei Amtssprachen Russisch, Ukrainisch und Krimtatarisch. Nach wie vor gehen Kulturschaffende, denen die Lage missfällt, weg, und diejenigen, die von der Krim fasziniert sind, halten ihr die Treue.

Die Geopolitik prägt wieder einmal die Region, und das, nachdem sie bereits in den letzten Jahrhunderten von Kriegen und Katastrophen erschüttert worden ist: im Russisch-Türkischen Krieg (1768-1774), im Krimkrieg (1853-1856), während der deutschen Besatzungen im Ersten und im Zweiten Weltkrieg, durch die Deportation der Krimtatar*innen und infolge des desolaten Gesamtzustandes nach 1990. Existentielle Probleme rückten das kulturelle Leben in den Hintergrund. Hinzu kam die Isolation durch die Vernachlässigung seitens der ukrainischen Regierung.

Geopoetik statt Geopolitik?

Den Spannungen der 1990er Jahre hatte der von der Krim stammende, russisch-ukrainische Dichter, Herausgeber und Organisator Igor Sidorenko (Sid) die Geopoetik gegenübergestellt. Sie sollte von der bedrohlichen und zermürbenden Geopolitik ablenken und auf humanistische Gedanken bringen. Sids „Krim-Klub“ veranstaltete seit 1993 regelmäßig das „Bosporusforum“ – einen Dialog zwischen der künstlerisch interessanten Halbinsel und den Parteien, die sich um sie stritten: Russland, Ukraine und Krimtataren. Das Experiment an der Grenze zwischen Kunstfestival und Konferenz schloss von Anfang an kollektive konzeptualistische Aktionen ein, darunter Landart, bei der in der freien Natur aus Naturmaterialien Kunstwerke geschaffen werden, und Happenings, eine Aktionskunst, bei der Künstler*innen Ereignisse improvisieren und das Publikum einbinden.

Unter den durchweg russischsprachigen Teilnehmer*innen sind Ismet Scheich-Zade, krimtatarischer Maler und Nachfahre eines Scheichs, dessen Familie nach Usbekistan deportiert worden war; der burjatische Dichter Amarsana Ulzytujew, der Philologe Alexander Korablew aus Donezk, wo er trotz des Krieges an der Universität tätig ist, die Dichterin und Poesieforscherin Natalia Asarowa, die halb in Moskau und halb in Alupka lebt, der jüdische Übersetzer und Theaterautor Jan Shapiro und Andrej Poljakow, einer der bekanntesten russischsprachigen Dichter. Letzterer sagt von seinem Schaffen, es kreise um die Krim, und das literarische Leben der Krim, das sei er selbst. Poljakow verkörpert die Geopoetik: Das Sein, so der Philologe, sei ein Intertext, das schreibende Ich ein semiotischer Körper, und der Sinn symbolisch und dynamisch, in ständiger Veränderung.

Obwohl das Konzept und die Teilnehmenden gut aufeinander abgestimmt sind, konnte das Forum, das ursprünglich alle zwei Jahre stattgefunden hat, zuletzt wegen mangelnder finanzieller Mittel immer seltener durchgeführt werden. Die Reisekosten tragen die Teilnehmenden selbst. Der Akzent des Forums im September 2015 lag auf Übersetzungen als kulturschöpferisches Phänomen. Die Vorträge, Lesungen, Buchpräsentationen und Exkursionen waren durch organisatorische Vorgaben geprägt, denn ohne die Unterstützung seitens des Moskauer Instituts für literarisches Übersetzen 2015 nicht stattfinden können. Vorher hat Sid private Sponsoren für einen Teil der Kosten auftreiben können, darunter eine Pension in Kertsch, wo die Teilnehmenden während des Festivals beherbergt sind. Westliche Kooperationspartner sind erwünscht, bisher gibt es jedoch keine.

Zur Kulturwüste verdurstet die Halbinsel jedoch nicht. Über 700 sozial und ökologisch engagierte sowie im engeren Sinn kulturelle Veranstaltungen pro Jahr listet der Plan des dreisprachigen Kulturministeriums auf, darunter krimtatarische und jüdische Feiertage, Veranstaltungen zum Gedenken an die Opfer der Deportation (die Krimtataren wurden seit 2014 angehalten, sie am Stadtrand und nicht im Zentrum von Simferopol durchzuführen; andererseits ist im Zentrum die größte Moschee auf der Krim gebaut worden) und der Weltkriege sowie Literaturförderung, zum Beispiel das Gumiljow - und das Woloschin-Festival in Koktebel.

Letzteres findet jeden Herbst statt, auch auf Kosten der – unter anderem liberal gesinnten – Teilnehmenden, unter welchen 2018 Tatjana Woltskaja gewesen ist, eine Korrespondentin für Radio „Swoboda“. In Koktebel steht das schiffsähnliche Haus des Dichters Maximilian Woloschin, das wie eine Arche internationale Gäste beherbergt hat. Geleitet wird es seit über zehn Jahren von Natalia Miroschnitschenko ungeachtet dessen, dass sie den Maidan unterstützt hat. Das Literaturhaus gleicht der Krim in Miniatur, ein Impuls- und Durchgangsort der Kreativen. Diese Tradition verstetigt das Festival, selbst wenn der Strom mal ausfällt.

Die Krim als Text

Gleichzeitig haben wir es mit einer Region zu tun, die ihre Bekanntheit vor allem der russischen Literatur und Malerei verdankt. Die Landschaftsbilder des russischen Malers Iwan Aiwasowski preisen das Meer, Alexander Puschkin verewigte die Fontäne von Bachtschissaraj – er rettete damit den Khan-Palast vor späterer sowjetischer Zerstörung –, und schickte Jewgeni Onegin zur Kur von dessen Petersburger Dandyhaftigkeit ans Schwarze Meer. Lew Tolstoj dokumentierte die Brutalität des Krimkrieges in seinen Kriegsreportagen. Anton Tschechow ließ nicht nur die Dame mit dem Hündchen in Jalta promenieren, sondern legte neben seinem Haus dort einen öffentlichen botanischen Garten an. Dieser ist, wie viele andere lokale Erinnerungsorte und die Krim selbst, zum Inspirationsort geworden.

Mag die Kulturförderung der Halbinsel stagnieren, weil das Geld aus Moskau nicht immer dort ankommt, wo es vorgesehen ist, so im Fall der 2015 bewilligten 1,6 Milliarden Rubel, die symbolische Imago der Krim führt ein Eigenleben in der russischen und europäischen Kultur. Auch deutschsprachige Autorinnen schreiben in den letzten Jahren zeitweise auf der und über die Krim, wenngleich so ambivalent, wie es die politische Konstellation ist: Während Esther Kinsky die Kälte der Halbinsel betont und deklariert, dass sie nach der Annexion die Halbinsel boykottieren wird, ist Olga Martynowa gerade danach ihrer „Heißneugier“ dorthin gefolgt. [1]

Gerade jetzt bräuchte man ein geopoetisches, internationales Forum über die Krim: Die wissenschaftliche und kreative Aufarbeitung der Krise im Sinne langfristiger Friedenssicherung, die mit einer Plattform für den Dialog beginnt.


[1] Esther Kinsky zus. mit Martin Chalmers: Karadag Oktober 13: Aufzeichnungen von der kalten Krim. Reisebericht, Berlin 2015; Olga Martynova: „Der goldene Apfel der Zwietracht. Krim-Tagebuch 2017“, in: Über die Dummheit der Stunde. Essays, Frankfurt a. M. 2018, S. 241-292.


Tatjana Hofmann ist Literaturwissenschaftlerin am Slavischen Seminar der Universität Zürich. Ihre Forschungsinteressen umfassen unter anderem russische und ukrainische Literaturen des 19., 20. und 21. Jahrhunderts, Reiseliteratur und autobiografisches Schreiben sowie Verflechtungen von Literatur mit Ethnologie und mit anderen Medien.