ZOiS Spotlight 19/2018

Sobibor heute

Von Elza-Bair Guchinova 23.05.2018
Filmszene aus „Sobibor“ (2018), Regie: Konstantin Khabenskiy Kinostar Filmverleih

Am 9. Mai wird in Russland der Tag des Sieges der alliierten Streitkräfte über den Nationalsozialismus begangen, eines Sieges, bei dem die Rote Armee die Hauptrolle spielte. Den 73. Jahrestag dieses Sieges feierte Russland im Berliner Zoo-Palast mit der Premiere des Filmes Sobibor, einer Regiearbeit des populären Schauspielers Konstantin Chabenskij, der auch die Rolle des Alexander Petschorskij spielt.

1943. Polen. Der sowjetische Leutnant jüdischer Herkunft Alexander Petschorskij gerät in das Vernichtungslager Sobibor, wo er sich einer Gruppe anschließt, die eine Massenflucht plant. Mit seiner militärischen Erfahrung wird Petschorskij deren Anführer. Der Plan bestand darin, alle 12 Offiziere einzeln zu überwältigen, deren Waffen an sich zu nehmen, ins Waffenlager vorzudringen und aus dem Lager auszubrechen. Der Plan gelingt nur zum Teil, doch gilt der Ausbruch als erfolgreich, auch wenn die 130 im Lager Verbliebenen umgebracht wurden, 80 bei dem Ausbruch getötet und 90 wieder gefangen wurden: Bei Kriegsende waren 53 der Geflohenen am Leben.

Unabhängig von den Intentionen der Macher, ist die zentrale Figur des Films hier das Lager. Das ist ein bemerkenswertes Moment, wenn man bedenkt, dass die meisten russischen Kriegsfilme vor allem die Geschichte der Haupthelden akzentuieren.

Das Sonderkommando

Sobibor unterschied sich, wie aus Petschorskijs Erinnerungen hervorgeht, von anderen Vernichtungslagern. Hier gab es nur ein Sonderkommando, also war es nur ein kleineres Lager mit 550 Insassen (bei der Befreiung des Lagers Bergen-Belsen gab es dort 60.000 Häftlinge), die das Lagerleben gewährleisten und dem Prozess der Judenvernichtung dienen mussten. Das waren unter anderem Frisör*innen, Schneider*innen, Schuster*innen, jene, die die Leichen in Gräben verbrannten (Krematorien gab es im echten Lager Sobibor keine), Holzfäller, die Brennholz zur Kremierung beschafften, jene, die die Besitztümer und die noch brauchbaren Sachen zur Verschickung nach Deutschland ordneten, und jene, die auf der Kaninchenfarm und auf der Geflügelfarm arbeiteten (in Sobibor wurden 300 Gänse nicht nur des Fleisches wegen gehalten, sondern auch, damit sie mit ihrem Geschrei die Schreie der sterbenden Menschen in den Gaskammern übertönten). Die Häftlinge des Lagers mussten jeden Transport am Tag der Ankunft vollständig im „Badehaus“ umbringen, das bis zu 800 Menschen aufnehmen konnte; der Tod trat nach 15 Minuten ein. Nach der Ermordung öffneten sich Bodenklappen und die Leichen rutschten in den Keller, in dem Loren bereitstanden. Das Sonderkommando stapelten die Leichen und fuhr sie in den Wald, wo sie in einer großen Grube verbrannt wurden. Bis zum Abend war von den neu Eingetroffenen nichts außer ihren sterblichen Überresten und die Koffer mit ihren Habseligkeiten geblieben. Die Todestransporte kamen jeden zweiten Tag mit jeweils zweitausend Menschen. Anders konnte es nicht gehen – die Baracken waren dem Dienstpersonal vorbehalten, dem deswegen für seinen Weg über die „Himmelsstraße“, wie die Straße zu den Gaskammern genannt wurde, ein Aufschub von einigen Monaten gewährt wurde.

Wenn in den Filmgeschichten über die Konzentrationslager, die im 20. Jahrhundert erzählt wurden, häufig die eigentlichen Häftlinge die Haupthelden waren (z.B. in Sophies Entscheidung von 1982 und in Das Leben ist schön von 1997), so sind in den letzten Jahren Angehörige der Sonderkommandos in den Vordergrund gerückt. Da geht es um Saul Ausländer (Sauls Sohn, 2015) und den Gehilfen von Josef Mengele (Die Grauzone, 2001). Die Ausgemergelten (die „Muselmänner“) hatten keine Kraft zum Widerstand, sie waren der „Lagerstaub“. Kraft und Möglichkeiten, eine Flucht zu planen, hatten allein jene Häftlinge, die im Lager über gewisse „Privilegien“ verfügten. Offensichtlich boten die Funde der „Rollen aus Staub“ (s. Pawel Poljan), der Tagebücher von Salmen Gradowski (Die Zertrennung - Aufzeichnungen eines Mitglieds des Sonderkommandos) und anderer „Hilfsarbeiter des Todes“ die Möglichkeit, die Figuren der Angehörigen der Sonderkommandos komplexer zu betrachten, denn nur als jene, „die sich dem Feind andienten, weil sie überleben wollten“. In den Sonderkommandos herrschten keine Illusionen über die Lebensaussichten, dort war es wie im GULAG: „stirbst du heute, sterb‘ ich morgen“.

„Ich möchte leben, um mich zu rächen“, sagt eine der Figuren im Film. Andere überlebten das Lager, um Zeugen zu werden, auch wenn Giorgio Agamben behauptet, dass die wirklichen Zeugen des Holocaust nicht überlebt haben, dass nur jene, die in der Gaskammer waren, die wirklichen Zeugen der Ereignisse sind.[1] „Einfach nur leben“ war im Lager sehr schwer, selbst wenn man sich in der Grauzone befand, in der man mit dem Bösen zusammenarbeitete.

Das Schicksal des Helden im Leben und auf der Leinwand

Lange Jahre haben sich russische Filmschaffende von Alexander Petschorskijs Geschichte nicht inspirieren lassen. Petschorskij selbst, der 1990 starb, hat zu Lebzeiten in der Heimat keine Anerkennung erfahren, jedenfalls nicht die Anerkennung, die er im Ausland erhielt. Nach dem Ausbruch schloss er sich den Partisan*innen an, danach musste er die Schande der Gefangenschaft mit seinem Blut in einer Strafkompanie wegwischen. Bei den Verhören im Filtrationslager erläuterte Petschorskij eingehend den Plan aus Sobibor und bastelte später aus Papier ein Modell des Lagers. Stalin ließ Petschorskij nicht als Zeugen zum Nürnberger Prozess fahren, und Gorbatschow ließ ihn 1987 nicht zur Premiere des US-amerikanischen Filmes Flucht aus Sobibor anreisen. Diese vom US-amerikanischen Produzenten erzählte Geschichte kam ganz im Hollywood-Stil daher, ebenso der Hauptdarsteller Rutger Hauer, der eher Kirk Douglas in der Rolle des Spartakus als Anführer des Sklavenaufstandes ähnelte: blond, blauäugig, muskulös – trotz zweier Jahre Lager für sowjetische Kriegsgefangene, die er hinter sich hatte.

Chabenskijs Film ist eine gebrochene Chronik des „nackten Lebens“ (nuda vita): Erniedrigung der Schwachen, Zügellosigkeit der Starken und mitunter überaus heftige Szenen der Gewalt. Die Kritik tadelt den Regisseur für die Lücken in der Erzählung, doch hat dieses Manko seine Berechtigung – der abgerissene Text spiegelt die zerrissene Erinnerung wider. Der Film zeigt jene, die überzeugt sind, dass „Gott uns retten wird, man darf ihn nur nicht stören und muss warten“. Und er zeigt jene, die Gehorsam und Duldsamkeit verfluchen, denen die Freiheit wichtiger ist als das Leben. Auch die Botschaft des Films lässt sich unterschiedlich lesen. Einmal als Geschichte darüber, wie ein russischer Offizier es schafft, selbst an einem derart infernalen Ort wie Sobibor noch Häftlinge aus verschiedenen Ländern Europas zu versammeln und in die Freiheit zu führen, die ohne seine Erfahrung und seinen Mut nicht Subjekte ihres eigenen Lebens werden konnten, also als Geschichte von der Roten Armee und deren Rolle bei der Befreiung vom Nationalsozialismus. Gleichzeitig lässt sich darin auch ein Aufruf an die Zivilgesellschaft sehen, sich nicht mit inakzeptablen Lebensbedingungen abzufinden und die Initiative zu ergreifen. Das Thema des Sieges im Zweiten Weltkrieg ist zur wichtigsten geistigen Klammer im heutigen Russland geworden – wie der Film jedoch in Europa aufgenommen wird, bleibt abzuwarten.


Elza-Bair Guchinova ist derzeit Gastwissenschaftlerin am ZOiS.


[1] Agamben: „Die ‚wirklichen’ Zeugen […] sind diejenigen, die kein Zeugnis abgelegt haben und kein Zeugnis hätten ablegen können“.