ZOiS Spotlight 12/2018

Parlamentswahlen in Ungarn: ein Blick in die Provinz

Von Chris Hann 04.04.2018
Zentraler Platz der Stadt Kiskunhalas: Anders als bei den Bürgermeisterwahlen vom 25. Februar in der ähnlich großen Stadt Hódmezővásárhely, gewann die Regierungspartei Fidesz hier bei anderen Wahlen am selben Tag mit Leichtigkeit. Chris Hann

Während die Partei Fidesz von Ministerpräsident Viktor Orbán sich anschickt, bei den Parlamentswahlen am 8. April den dritten Sieg in Folge zu feiern, machen sich Beobachter*innen im In- und Ausland ernste Gedanken um den Zustand der parlamentarischen Demokratie in Ungarn. Das EU-Land hat in den letzten Jahren sowohl aus Brüssel, wie auch aus Berlin viel Kritik erfahren.

Die sozialistische Demokratie hatte mit der Unterdrückung der Revolution von 1956 ihren Tiefpunkt erreicht. In den folgenden Jahrzehnten jedoch legten Reformer*innen innerhalb der herrschenden Kommunistischen Partei die Grundlage für eine stärker sozialdemokratisch ausgerichtete Vision, die sich mit der Politik in einem Mehrparteiensystem vereinbaren ließ. Die Partei, nun umbenannt in Ungarische Sozialistische Partei, mag zwar 1990 verloren haben, doch war ihre politische Legitimierung stark genug, um die Prognosen über den Haufen zu werfen und 1994 und dann wieder 2002 und 2006 die Wahl von sozialistisch geführten Regierungen zu ermöglichen. In den letzten Jahren erfolgte die heftigste Opposition gegen die in Ungarn dominierende Fidesz jedoch durch Jobbik, eine Partei, die sich  noch weiter außen auf dem rechten, ethnonationalistischen Flügel des Spektrums positionierte. Die Expert*innen sind sich uneins darüber, inwieweit einzelne inkompetente (um nicht zu sagen: selbstsüchtige) politische Führungspersonen für diesen Zusammenbruch verantwortlich sind, oder ob nicht der strukturelle Wandel der Politökonomie einer neoliberalen Europäischen Union die Ursache ist, ein Wandel, der allerorts sozialdemokratische Optionen zurückgedrängt hat, vor allem in der europäischen Peripherie der postsozialistischen Staaten.

Viktor Orbáns Marsch in Richtung eines weiteren Wahlsieges hat insbesondere nach der und durch die Migrationskrise von 2015 Schwung bekommen. Angela Merkel und andere führende EU-Politiker haben ihm dabei unentwegt in die Karten gespielt. Seine Schließung der Balkanroute durch den dramatisch inszenierten Bau eines Zaunes war nicht nur symbolisch wirkmächtig: Sie ließ auch die Scheinheiligkeit der EU-Politiker offenbar werden, die tief und erleichtert aufatmeten, als die Zahl der Geflüchteten endlich zurückging, während sie weiterhin die Moralapostel mimten und Ungarn und dessen Nachbarn aus der Visegrád-Gruppe für die Ablehnung von Aufnahmequoten für Flüchtlinge rügten. Im Vorfeld der Wahlen ist Orbán unablässig auf diesen Themen herumgeritten. Orbáns wichtigster Dämon heißt George Soros, der in den Medien sattsam beschuldigt wird, er verfolge den Plan, durch die von ihm finanzierten NGOs, auch durch seine Universität in Budapest, nicht nur die Identität der magyarischen Nation zerstören zu wollen, sondern gar die kulturellen Werte des christlichen Kontinents Europa.

Ein Signal des Wandels aus der Provinz?

Alles schien glatt nach Orbáns Plan zu verlaufen, bis am 25. Februar die Bürgermeisterwahlen der in der Großen Ungarischen Tiefebene gelegenen Stadt Hódmezővásárhely eine Überraschung brachten: In dieser Hochburg der Fidesz erlitt deren Kandidat gegen einen Parteilosen eine Niederlage.1 Der Einbruch des Stimmenanteils für Fidesz war zwar nicht erdrutschartig, doch errang der unabhängige Kandidat Dr. Péter Márki-Zay fast 60 Prozent der Stimmen, und das bei einer deutlich gestiegenen Wahlbeteiligung. Offensichtlich war es diesem charismatischen Ökonomen und Manager, der nach mehrjährigem Aufenthalt in Nordamerika in seine Heimatstadt zurückgekehrt war, gelungen, dort die Unterstützung von Menschen zu gewinnen, die normalerweise ganz unterschiedliche Parteien gewählt hätten. Dabei haben sich Bürger*innen zusammengeschlossen, um eine Partei zu besiegen, die weithin als unverfroren korrupt wahrgenommen wurde, und als eine regierende Partei, die dabei ihr nahezu uneingeschränktes Machtmonopol auf allen Ebenen einsetzt.

Könnte der Wahlausgang in Hódmezővásárhely der Vorbote für Verwerfungen bei den Parlamentswahlen sein? Schließlich ist Korruption überall ein Thema. Es ist jedoch schwierig, die Oppositionskräfte zu vereinen, insbesondere, wenn Fidesz Tag für Tag öffentlich deutlich macht, dass ihre bedeutendste Konkurrenz in Schiebereien und Filz verstrickt sei. An jenem gleichen Tag im Februar errang der Kandidat von Fidesz bei einer anderen Wahl in der nur unwesentlich kleineren Stadt Kiskunhalas, die ich seit den 1970er Jahren gut kenne, mit Leichtigkeit den Sieg. Das flache Land um Kiskunhalas hatte sich zwar schon seit Längerem geschlossen hinter Fidesz gestellt, doch konnte Ungarns dominierende Partei hier erst 2014 ins Rathaus einziehen. Die Linke ist hier inzwischen ein einziges Durcheinander und die Sozialisten hielten es dieses Jahr nicht einmal für nötig einen Kandidaten aufzustellen. Es sind viele neue Oppositionsparteien entstanden, doch nur wenige sind außerhalb großer Ortschaften auf Resonanz gestoßen. In Kiskunhalas erfolgt heutzutage die einzige vehemente Opposition durch die Jobbik, deren örtlicher Kandidat bei den Parlamentswahlen gleichzeitig Chef der nationalen Jugendbewegung der Partei ist. Der Fidesz-Kandidat hat sich jedoch, ganz wie Orbán auf nationaler Ebene, nicht verunsichern lassen. Er weist Herausforderungen zu einer öffentlichen Debatte mit seinem Hauptkonkurrenten zurück, weil er überzeugt ist, dass ihm die Parteimaschinerie schon die benötigten Stimmen beschaffen wird.

Er könnte auch auf andere Instrumente zurückgreifen. Es liegt auf der Hand, dass ein*e Oppositionskandidat*in nur dann gewinnen kann, wenn er oder sie Stimmen von anderen Parteien erringt. Die vielversprechendste Option für Jobbik in Kiskunhalas ist die LMP (Lehet Más a Politika -- „Politik kann anders sein“), eine liberal-grüne Gruppierung, die von Angehörigen der Budapester Elite angeführt wird. Deren örtliche Kandidatin ist ein attraktives 22-jähriges ambitioniertes Model namens Melánia, der jede politische Erfahrung fehlt. Melánia hat die Bedeutung von liberális auf eine Weise erweitert, die bisher im kleinstädtischen Ungarn unbekannt war: Ihre leichtbekleideten Auftritte in Rapvideos haben ihr eine Präsenz in den sozialen Medien verschafft, von sich jedoch nicht alle Wähler*innen beindrucken ließen. Es begab sich nun, dass der Mitschnitt eines Telefonats öffentlich wurde, in dem der Jobbik-Kandidat Melánia anbot, ihr sämtliche bisherigen Wahlkampfkosten zu erstatten, wenn sie denn ihre Kandidatur zurückzöge. Fidesz verbreitete daraufhin ein staatstragendes Statement, in dem erklärt wurde, dass sich der wichtigste Gegenkandidat praktisch selbst für eine Bewerbung um das Mandat disqualifiziert habe. Wer für den Mitschnitt und dessen Veröffentlichung verantwortlich ist, bleibt ungeklärt, doch mutmaßten einige, dass Fidesz selbst in schmutzige Tricks verwickelt war. Schließlich ist die dominierende Partei die Hauptnutznießerin dieser Affäre, und wer sonst wäre heute in Ungarn in der Lage, auf diese Art Macht einzusetzen?

Ein weiterer Triumph für Fidesz

Die Bürgermeisterwahlen in Hódmezővásárhely dürften also ein einmaliger Ausrutscher gewesen sein, und keine Generalprobe für die Parlamentswahlen. Der vertrauenswürdige neue Bürgermeister Márki-Zay versucht weiterhin unentwegt – vor Ort und überall im Land --, taktisches Wahlverhalten zu fördern, und die neuen Informationstechnologien machen wenigstens teilweise die unaufhörlichen Zänkereien der Oppositionsführer wett. Es wäre jedoch eine Überraschung, wenn Fidesz es am 8. April nicht schaffen sollte, diesen Wahlkreis zu behaupten. Ganz sicher wird sie in Kishunhalas und generell in der ungarischen Provinz Siege feiern. Bisher hat Viktor Orbán diese kleine Stadt in seinem Wahlkampf noch nicht besucht, doch hat er am 19. März unweit der Stadt, an der Grenze zu Serbien, sein Meisterwerk inspiziert – den Grenzzaun. Es war für den Ministerpräsidenten eine ideale Gelegenheit, sich über die heimischen Querelen zu erheben und in der Manier eines europäischen Staatsmannes die Arbeit der Sicherheitskräfte zu loben: „Dieser Zaun schützt nicht nur Ungarn, sondern ganz Europa […] Wir haben ihn gebaut, wir haben dafür gezahlt und wir erwarten von Europa, dass es die Kosten zumindest in dem Ausmaß übernimmt, in dem der Zaun auch sie [die Europäer] schützt“, lautete seine Erklärung.2


Chris Hann ist Direktor des Max-Planck-Instituts für ethnologische Forschung in Halle und Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.


[1] Über die Ereignisse wurde in der ausländischen Presse breit berichtet z.B. am 24. Februar, noch vor der Wahl, von Jan Puhl, “Alle gegen einen”, Der Spiegel 2018/9, pp. 81-3. Die Aufregung respektabler ausländischer Medien über den Überraschungserfolg wurde auch von ungarischen Medien gemeldet: https://alfahir.hu/2018/02/26/nemzetkozi_sajto_die_presse_der_standad_le_figaro_marki_zay_peter_hodmezovasarhely_fidesz

[2] So wörtlich im offiziellen Bericht, wo man auch den Videobeitrag des Ministerpräsidenten zum Anlass finden kann: http://abouthungary.hu/news-in-brief/pm-orban-visits-tompa-on-the-hungarian-serbian-border-to-inspect-hungarys-border-fence-and-to-thank-police-and-soldiers-for-their-efforts/