ZOiS Spotlight 35/2018

Krieg und Wasser im Donbass

Von Sophie Lambroschini 17.10.2018
Pumpwerk in Torezk, Donbass. Sophie Lambroschini

Die Front in der Ostukraine zwischen den von der Regierung kontrollierten Teilen des Donbass und den international nicht anerkannten, unter russischem Einfluss stehenden „Volksrepubliken“ Luhansk und Donezk (LVR und DVR) hat viele Wirtschafts- und Infrastrukturnetze zerstört. Das örtliche Wasserversorgungsnetz ist zum Teil eine Ausnahme. Aus technischer Sicht kann es nicht geteilt werden und hat seit Beginn des Krieges im Mai 2014 über die Front hinweg 3,8 Millionen Menschen mit Wasser und Heizung versorgt.

Im vergangenen Frühjahr ist die Wasserleitung, die in der Ostukraine die Front zwischen den von der Regierung kontrollierten Teilen des Donbass und den von den Separatisten gehaltenen Gebieten quert, ein weiteres Mal in Folge von Granateneinschlägen geborsten, wodurch die örtliche Wasserversorgung unterbrochen wurde. Walerij Konowalow, Wasseringenieur und Direktor der Wasserwerke im von Kiew kontrollierten Awdijiwka, übernahm als verantwortlicher Chef die Leitung der Reparaturarbeiten. Sobald das Minenräumkommando die Straße freigemacht hatte, zog er sich seine Schutzweste an, um die Schäden an der Leitung aufzunehmen. Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) hatten sogenannte gespiegelte Patrouillen mit ukrainischen Offiziellen und Vertretern der Separatistengebiete organisiert, die einen kurzen Waffenstillstand überwachten.

Konowalow wusste, dass er wenig Zeit hatte, die gefährliche Reparatur auszuführen, bevor der Beschuss wieder einsetzen würde. Jedes Fenster von Waffenruhe zwischen den kriegführenden Parteien setzt mitunter wochenlange Verhandlungen voraus und hält nur für wenige Stunden, da der Beschuss wieder losgehen kann, während die Reparaturen noch laufen. Im April wurde ein Bus, der Techniker zur Donezk-Filterstation bringen sollte, von Kugeln aus Kleinfeuerwaffen getroffen. Fünf Mitarbeiter wurden verletzt und die Anlage für mehrere Tage stillgelegt. Rund 350 000 Menschen blieben auf ihre Vorräte und Wassertankwagen angewiesen, bis die OSZE-Beobachtermission einen sicheren Transport organisieren konnte.

Im Zeitraum von Januar bis September 2018 ist nach Angaben von UNICEF die Versorgungsinfrastruktur im Schnitt zwei Mal wöchentlich durch Beschuss in Mitleidenschaft gezogen worden. Das ad hoc-Management auf der politischen und der technischen Ebene hat bislang eine größere humanitäre Krise abwenden können. Das Wassermanagement an der Front macht die Arbeitsweise und die Grenzen von Zusammenarbeit entlang der Feindeslinie deutlich.

Ein Erbe der sowjetischen Industrialisierung

Woda Donbasu (WD; „Wasser des Donbass“) ist ein kommunales Unternehmen, das im von den Separatisten kontrollierten Donezk angesiedelt ist, aber nach ukrainischen Gesetzen agiert; es ist im Zentrum dieses hydro-politischen Knotenpunktes tätig. Es betreibt die Wasserversorgungsanlagen, die entlang der Frontlinie erstrecken. Das Wasser kommt aus dem Fluss Siwerskyj Donez im Norden des von Kiew kontrollierten Teils von Donezk und fließt über ein System von Kanälen, Filterstationen und Pumpwerken zu Haushalten, auf Felder und zu Fabriken – von Donezk bis runter nach Mariupol am Asowschen Meer.

Dieses alternde System ist bereits in den späten 1950er Jahren für die sowjetischen Metallurgie- und Energieanlagen und deren Städte entwickelt worden. In den postsowjetischen Jahrzehnten, als profitorientierte Unternehmergruppen die Region kontrollierten, wurde es bei Investitions– und Modernisierungsmaßnahmen übergangen. Vier Jahre Krieg haben Infrastruktur, Instandhaltung und Finanzierung zusätzlich stark strapaziert.

Aufrechterhaltung von Normalität als Adaptionsstrategie

Die 12 000 Mitarbeiter*innen der 30 lokalen Sparten von WD, die sowohl in den von Kiew kontrollierten, wie auch in den besetzten Gebieten wohnen und arbeiten, versuchen sich an die unsicheren, wechselhaften Alltagsbedingungen in der Region anzupassen. WD umfasst die Komplexität dieses Arrangements: Eine Firma, die auf beiden Seiten der Kriegslinie die Versorgung für 3,8 Millionen Menschen mit Trinkwasser gewährleistet.

Lokale Unterabteilungen wie die von Konowalow betreiben die lokale Fernwärme- und Wasserversorgung der Kommunen. Sie kümmern sich um die Wasserqualität, übernehmen die Wartung, lesen die Wasseruhren in den Haushalten ab und erheben die Gebühren. In Awdijiwka gibt es ein Pumpwerk mit Speicher und seit 2015 einen Luftschutzraum. Im Bürogebäude haben Mitarbeiter*innen die Fensterscheiben mit Folie verhängt, zum Schutz gegen Granatsplitter.

Wenn man auf beiden Seiten der Frontlinie tätig ist, muss man mobil sein. Leitende Mitarbeiter*innen von WD haben in Interviews beschrieben, wie sie die langen Warteschlangen an den Kontrollpunkten zu überwinden versuchen, um zum Büro in Pokrowsk zu gelangen, das auf der von der Regierung kontrollierten Seite als zweites Hauptquartier fungiert. Eine Fahrt von Jassynuwata auf der Separatistenseite bis ins nur 22 Kilometer entfernte Awdijiwka kann bis zu elf Stunden dauern. Manchmal nehmen die Mitarbeiter*innen kleinere Ersatzteile über die Demarkationslinie, Schrauben und Muttern, die in einer Donezker Werkstatt speziell für die veralteten Anlagen hergestellt werden. Monatlich werden über eine wacklige Videoverbindung zwischen Pokrowsk und Donezk Vorstandssitzungen abgehalten.

Mitarbeiter*innen von WD erklären den Umstand, dass sie trotz der Sicherheitslage und der Probleme bei der Auszahlung der Gehälter das Unternehmen nicht verlassen wollen, mit ihrer Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft. Diese Bindung scheint besonders stark bei jenen zu wirken, die im Donbass geboren und aufgewachsen sind. Manchmal sind es Söhne oder Töchter aus Wasserversorger-„Dynastien“. Das alltägliche Leben wie gewohnt fortzuführen, ist ein auch anderweitig dokumentiertes Verhalten von Menschen in Kriegssituationen; es ist ein Versuch, im Chaos ein Gefühl von Normalität entstehen zu lassen.

Die Mitarbeiter*innen von WD haben in Interviews behauptet, dass die Beziehungen zwischen den Belegschaften auf den beiden Seiten der Front nur wenig durch die offizielle Propaganda oder die kriegsbedingte gesellschaftlich-politische Entfremdung beeinträchtigt worden seien: „Wenn man Fachmann ist, dann heißt das, dafür zu sorgen, dass die Politik [der Krieg] nicht unsere Arbeit unterbricht“. Die Kontaktlinie zwischen den von der Regierung kontrollierten und den nicht von der Regierung kontrollierten Gebieten wird eher als Schwierigkeit wahrgenommen, die sich bewältigen lässt, denn als wirkliches Hindernis.

Grenzen der Wasserpolitik

Folgt man einer breiteren Sicht der Konfliktforschung, so wird angenommen, dass technische Zusammenarbeit mit ihrer Betonung auf Standardlösungen und Professionalität ein gewisses Maß an friedenschaffendem Potential bietet.

Auf einer anderen Ebene ist die Tätigkeit von WD in stärkerem Maße politisch geworden. Der Konflikt in der Ostukraine hat das Geschäfts- und Managementmodell von WD umgeworfen. Die Reichweite der Interaktion auf neue Akteure auszuweiten, wurde überlebensnotwendig. War das Unternehmen ursprünglich strikt auf lokaler Ebene tätig, kommuniziert die Geschäftsführung nun mit der Minsker Kontaktgruppe, internationalen Geldgebern (westliche Regierungen und internationale Organisationen, die Chemikalien und Ersatzteile bereitstellen), den Behörden in Kiew und Donezk, der Sonderbeobachtermission der OSZE in der Ukraine und mit den Streitkräften.

Das Beispiel der Wasserversorgung im Donbass macht deutlich, wie Kriegserfahrungen vor Ort komplexer sein können als das politische Narrativ des Krieges. Dieses nuancierte Bild deckt sich mit dem gesellschaftlichen Umfeld im Donbass, bei dem die Kommunikation über die Demarkationslinie hinweg intensiv geblieben ist und somit der allgemeinen Tendenz in Richtung politischer Polarisierung entgegensteht. Die Wirksamkeit dieser Zusammenarbeit auf der Mikroebene wird allerdings oft durch übergeordnete militärische, politische und geopolitische Interessen beeinträchtigt.


Sophie Lambroschini ist graduierte Wissenschaftlerin am Centre Marc Bloch in Berlin, wo sie in einem Projekt über frontübergreifende wirtschaftliche Interaktionen und Netzwerke im Donbass arbeitet. Sie hat in Slawistik mit einer Arbeit zu sowjetischem kapitalistischem Bankwesen während des Kalten Krieges promoviert. Von ist unter anderem erschienen: Les Ukrainiens : Lignes de vie d’un peuple (Ateliers Henry Dougier, 2014/2016).