ZOiS Spotlight 9/2018

Gibt es in Russland den Wunsch nach Veränderung?

Die meisten Russ*innen haben trotz Hoffnung auf Veränderung keine konkrete Vorstellung von möglichen Reformen. Nikolai Krinner/n-ost

In Russland auf Veränderungen zu hoffen ist oft ein aussichtsloses Unterfangen. Die Erwartungen der Bevölkerung in sozialen Fragen sind in der Regel gering, und die Menschen erhalten meist das, was sie erwarten, nämlich sehr wenig. Die am 18. März in Russland anstehenden Präsidentschaftswahlen und der - wenn auch nur formale – Beginn eines neuen politischen Zyklus bieten jedoch Anlass genug zu erörtern, ob es einen umfassenden Wunsch nach Veränderungen gibt und wenn ja, wie er aussieht und auf welche Weise er umgesetzt werden könnte.

Das Carnegie-Zentrum Moskau hat gemeinsam mit dem unabhängigen Lewada-Zentrum das Projekt „Wir warten auf Veränderungen“ ins Leben gerufen. Beide Organisationen haben eine russlandweite quantitative Meinungsumfrage und Gruppendiskussionen durchgeführt, um zu untersuchen, inwieweit Reformen in der Bevölkerung unterstützt würden. Die Ergebnisse sind aufschlussreich, es entsteht das Bild eines Landes, in dem die Hoffnung auf Veränderungen und ein konkretes Verständnis von Reform nur selten zusammenfallen.

Im August 2017 war die Haltung zu Reformen zweigeteilt: 42 Prozent der Russ*innen sprachen sich für entschlossene und umfassende Reformen aus, während 41 Prozent kleine, schrittweise Verbesserungen bevorzugten. Entgegen dem üblicherweise vorherrschenden Narrativ nehmen Russ*innen Veränderungen nicht als etwas von Natur aus Bedrohliches wahr – nur 11 Prozent der Befragten wollten überhaupt keine Veränderungen. Der Bevölkerungsmehrheit fehlt allerdings eine klare Vorstellung von den spezifischen Schritten, mit denen die Lage verbessert werden könnten.

In der öffentlichen Meinung dominieren Hoffnungen allgemeiner Art: ein leicht verbesserter Lebensstandard, höhere Gehälter und günstigere Waren in den Läden. Es gab allerdings auch radikalere Ansichten. Eine der Befragten bemerkte traurig, dass „die Leute in den trostlosen Provinzstädten [...] wollen, dass der Staat stärker wird, die Reichen erschießt, und eine Art Stalin kommt und uns alle rettet. Das ist dann auch eine Veränderung“.

In der Regel werden radikalere Reformen eher von den wirtschaftlich schwächeren Bevölkerungsteilen unterstützt. Erfolgreichere Bevölkerungsschichten bevorzugen allmähliche Veränderungen. Die Befragten waren weithin der Überzeugung, dass junge Menschen diejenige Gruppe sind, die am stärksten an Veränderungen interessiert ist. Diese Annahme lässt sich jedoch nicht mit Fakten belegen. In Wirklichkeit sind sie bei dieser Frage womöglich die konservativste Gruppe, im Gegensatz zu den vorgefassten Meinungen, dass junge Menschen die Triebkräfte und Anwälte der Veränderung sind. Die Umfrageergebnisse zeigen, dass die unter 25-Jährigen unter allen Gruppen am wenigsten, nämlich nur zu 34 Prozent, für entschiedene, weitreichende Veränderungen eintreten. Bei ihnen ist wiederum auch der Anteil derer am größten, die keinerlei Veränderungen für notwendig halten (15 Prozent der Befragten gegenüber rund zehn Prozent bei anderen Gruppen). Fast die Hälfte der jungen Russ*innen meinen, dass das Land nur geringe Veränderungen braucht.

Warum ist das so? Möglicherweise, weil diese Generation unter Putin aufgewachsen ist, keine andere Führungspersönlichkeit, kein anderes politisches System oder Staatsmodell kennt. Auch die Unterstützung für die Regierung ist unter den jungen Menschen häufiger anzutreffen als im Durchschnitt. Bei junge Menschen im fortgeschrittenen Erwachsenenalter zwischen 25 und 39 Jahren, die im Beruf stehen und Verantwortungen übernehmen müssen, scheint der Wunsch nach Veränderungen jedoch zuzunehmen.

Unterstützung für Veränderungen, aber keine klaren Vorstellungen

Die Visionen über potentielle Reformen hatten bei den Moskauer*innen am meisten Substanz. Die Hauptstädter*innen waren der Ansicht, dass sowohl Verbesserungen im Sozialbereich als auch eine Justizreform notwendig sind. Ein Drittel der Moskauer Befragten (doppelt so viele wie im Durchschnitt) sehen in einer verbesserten Qualität staatlicher Dienstleistungen und in staatlicher Unterstützung für Unternehmen wichtige Reformen. Und jeder fünfte der befragten Moskauer*innen nannte die Gewährleistung freier und fairer Wahlen als Reformbedarf.

Im Großen und Ganzen gab es jedoch nur leichte Unterschiede zwischen den verschiedenen demographischen Gruppen. Personen mit besserer Bildung, die in der Lage sind, die potentielle Richtung von Reformen sinnvoll zu erörtern, sind in Wirklichkeit weniger zahlreich, als viele meinen. Und sie sind die einzigen, die den Eindruck haben, dass politische Reformen notwendig sind. Vereinzelte Befragte sprachen von der „Ermöglichung von Machtwechsel“, von „unabhängigen Gerichten“ und der „Unverletzbarkeit von Eigentumsrechten“. Allerdings hatten selbst diese Personen keine verständliche Vision von einem möglichen Reformplan. Diese Mitglieder der Diskussionsgruppen betrachteten eine Erhöhung von staatlichen Zahlungen, Subventionen und Vergünstigungen sowie der Preiskontrolle als passende Maßnahmen zur Verwirklichung der angestrebten Ziele. Diese Ansichten spiegeln die Unzufriedenheit mit der derzeitigen Lage der Dinge wider wie auch die Überzeugung, dass der Staat unumstößliche Verpflichtungen gegenüber seinen Bürger*innen hat. Es gibt aber keine klare Vorstellung, was die nächsten Schritte sein könnten.

Die landesweiten Umfragen zeigen, dass die Menschen in Russland nahezu nichts über die Reformprogramme des ehemaligen Finanzministers Alexej Kudrin und des russischen Beauftragten für die Rechte der Unternehmer, Boris Titow, gehört haben. Diese Politiker wurden in weniger als einem Prozent der Antworten genannt, als nach Personen gefragt wurde, die einen attraktiven Reformplan vorlegen können. Tatsächlich konnten 60 Prozent der Befragten keinen einzigen Politiker nennen, der dieser Aufgabe gewachsen sein könnte.

Das ist wenig überraschend. In Russland wird die Bevölkerung bei der gesamten Diskussion zur nationalen Entwicklung übergangen und die Debatte den Fachleuten überlassen. Wenn die Stimmen der Expertendiskussion die Öffentlichkeit erreichen, geschieht das über unabhängige Medienkanäle, die selten von mehr als 10 bis 15 Prozent der Bevölkerung genutzt werden.

Passive Akzeptanz des bestehenden Systems?

Ungeachtet einiger Nennungen von potentiellen Reformern wie dem Oppositionsführer Alexej Nawalny bleibt in der Öffentlichkeit folgende Ansicht vorherrschend: Wenn jemand in Russland Reformen bewerkstelligt, dann das derzeitige Regime (auch wenn die Moskauer Fokusgruppe sich hierzu skeptisch äußerte). Angesichts mangelnder politischer Alternativen verband eine Mehrheit der Befragten ihre Hoffnungen mit Wladimir Putin.

Es ist ein dauerhaftes Modell: Putin verkörpert die Hoffnungen jeder einzelnen gesellschaftlichen Gruppe. Er ist der wichtigste Liberale, Nationalist, Imperialist und Sozialist. Also sehen viele in ihm auch den wichtigsten Reformer. Es entsteht der Eindruck, dass folgendes Szenario am wünschenswertesten und bequemsten für alle wäre: Das Ganze ändern, ohne irgendetwas zu verändern, was weder Opfer, noch Risiken, noch Anstrengungen erfordern würde.  Das Regime wird sich schon von selbst wandeln. Das Problem ist nur: Es geschieht überhaupt nichts.

Die Befragten, die das stärkste Vertrauen in die Reformfähigkeiten des Präsidenten haben, sind meist einigermaßen erfolgreiche Personen, die auf kleinere Verbesserungen hoffe. Das lässt sich zum Teil dadurch erklären, dass die meisten, die in Russland als Angehörige der Mittelschicht gelten (Staatsangestellte, Bürokraten, Sicherheitskräfte, Mitarbeiter von Staatskooperationen), ihren Wohlstand dem Staat verdanken. Als Realisten werden sie nicht nach dem Unmöglichen verlangen, also nach alternativen Reformern.

Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass die Menschen in Russland kaum einen Wunsch nach Veränderungen zeigen. Andererseits erkennen die meisten – selbst die „putinfreundliche Mehrheit nach der Annexion der Krim“ – auch, dass sich ohne Reformen unmöglich ein Fortschritt erreichen lässt, ja vielleicht nicht einmal ein Stillstand.


Andrei Kolesnikov ist Senior Fellow des Carnegie-Zentrums Moskau, er leitet dort das Programm Programms Innenpolitik und Politische Institutionen.

Denis Volkov ist Soziologe am Lewada-Zentrum in Moskau.

Dieser Beitrag ist ursprünglich in einer russischen Fassung in den Wedomosti und auf Englisch beim Carnegie-Zentrum erschienen.