ZOiS Spotlight 7/2018

Brest-Litowsk, ein Frieden im Krieg

Von Nikolaus Katzer 28.02.2018
Deutsche Offiziere begrüßen die sowjetische Delegation auf dem Bahnhof von Brest-Litowsk.

Am 3. März 1918 willigten die Bolschewiki, die drei Monate zuvor die Macht in der Hauptstadt Petrograd erobert hatten, in einen Vertrag mit den Mittelmächten unter Führung des Deutschen Reiches ein, der in der Geschichte Russlands seinesgleichen sucht: Sie verzichteten auf jeweils etwa ein Viertel des europäischen Teils des Staatsterritoriums, des anbaufähigen Landes und des Eisenbahnnetzes, auf ein Drittel der Textilindustrie sowie drei Viertel der Eisenindustrie und der Kohlebergwerke. Insgesamt verlor Russland damit 1,42 Millionen km2 Boden mit etwa 60 Millionen Einwohner*innen, also über ein Drittel der Gesamtbevölkerung. Finnland und Polen waren bereits in die Unabhängigkeit entlassen. Nun gingen auch Litauen, Kurland, die Ukraine und Teile Armeniens verloren. Ein Zusatzvertrag vom 27. August 1918 erkannte zusätzlich die Souveränität Estlands, Livlands und Georgiens an. Was trieb die Sowjetregierung zu diesem beispiellosen Verzicht?

„Frieden“ war im Verlauf des Jahres 1917 zum politisch wirksamsten Schlagwort in Russland geworden. Offensiven im Frühjahr und Sommer, mit denen der Sieg über die Mittelmächte Deutschland, Österreich-Ungarn, Bulgarien und Osmanisches Reich erzwungen werden sollte, waren erfolglos geblieben. Die Provisorische Regierung hielt auch nach dem Sturz des Zaren im Februar an der Bündnistreue zu den westlichen Alliierten fest. Scharenweise liefen Arbeiter*innen und Soldaten zu den Bolschewiki über. Lenin, der mit Hilfe der deutschen Reichsregierung aus dem Schweizer Exil nach Petrograd gelangt war, hatte den sofortigen Ausstieg aus dem Krieg und einen „Frieden ohne Annexionen und Kontributionen“ zum Gebot der Stunde erklärt.

Bringt ein Waffenstillstand Frieden?

Unmittelbar nach dem Oktoberumsturz erließen die Bolschewiki das Dekret „Über den Frieden“, dessen Sprengkraft durch ein weiteres Dekret „Über den Boden“ über die Enteignung der Grundbesitzer noch gesteigert wurde, weil es die Bauern in Uniform von der Front in die Etappe oder gleich in die heimatlichen Dörfer zog.  Am 15. Dezember 1917 trat ein Waffenstillstand mit zweimonatiger Laufzeit in Kraft. Er veränderte die Lage auf dem östlichen Kriegsschauplatz grundlegend. Die Aussicht, Russland werde vorzeitig aus dem Bündnis mit der Entente ausscheren, ermutigte Autonomiebewegungen, die nationale Unabhängigkeit zu fordern. Wegen der Versorgungskrise erhielten revolutionäre Unruhen Auftrieb.

Am 22. Dezember begannen in der frontnahen Stadt Brest-Litowsk, die auf deutschem Besatzungsgebiet lag, die Verhandlungen über einen Separatfrieden. Antiimperialistische Rhetorik und konventionelle Diplomatiesprache stießen hart aufeinander. Unüberbrückbare Gegensätze führten mehrfach zur Unterbrechung. Ultimaten zeugten von der Nervosität der Beteiligten. Adolf Joffe, zunächst Delegationsleiter der Sowjetregierung, warb für einen globalen Modellfrieden; der ihm nachfolgende Leo Trotzki versuchte, mit der Formel „Weder Krieg noch Frieden“ eine förmliche Festlegung hinauszuzögern. Die Delegation der Mittelmächte um Generalmajor Max Hoffmann, Staatssekretär Richard von Kühlmann und Graf Ottokar von Czernin war sich immerhin in der Ablehnung solcher Manöver einig und erhöhte die Forderungen. Teil der Eskalation war es nicht zuletzt, eine Abordnung aus Kiew zu empfangen und am 9. Februar 1918 einen Sonderfrieden mit der Ukraine zu schließen.

Doppelte Außenpolitik

Das diplomatische Intermezzo zwischen Dezember 1917 und März 1918 wirkt bis heute nach. Mit dem Waffenstillstand von Compiègne, so glaubten die Siegermächte des Ersten Weltkriegs, und der Annullierung aller Vereinbarungen von Brest-Litowsk werde dem Völkerrecht wieder Geltung verschafft. Dabei hatte sich der eurasische Großraum längst in einen Schauplatz zahlreicher Bürgerkriege verwandelt. Konventionelle Diplomatie konnten sie ebensowenig einhegen wie militärische Interventionen. Während Diplomaten in Versailles zäh um den Großen Frieden rangen, wurden in Osteuropa gewaltsam Tatsachen geschaffen. In Fernost entstand nach dem japanischen Eingreifen ein neuer Konfliktherd.

Die doppelte Außenpolitik der Bolschewiki, die ideologische Kriegführung mit konventioneller Verhandlung verband, setzte Maßstäbe, die im 20. Jahrhundert vielfach Nachahmung fanden. Insofern war die Generalprobe in Brest-Litowsk erfolgreich, wenngleich ein „Diktatfrieden“ akzeptiert werden musste. Die Presse trug die weltrevolutionären Appelle in hoher Auflage von der diplomatischen Bühne auf die Straßen Berlins, Wiens, Sofias, Konstantinopels und anderer Hauptstädte der Welt. Alles sollte transparent erscheinen, Geheimabsprachen der Vergangenheit angehören. Lenin drohte seinen Genossen mit Rücktritt, wenn sie nicht bereit wären, für den Austritt aus dem äußeren Krieg „jeden Preis“ zu zahlen. Wohl wissend, dass die Zeit für den geplanten „revolutionären Krieg“ aus Mangel an loyalen Streitkräften noch nicht reif war, nahm er in Kauf, dass der einzige Koalitionspartner, die Partei der Linken Sozialrevolutionäre, die Regierung verließ. Sie bezichtigte ihn – wie nahezu alle politischen Kräfte im Land – des „Verrats“ an Russland. Er hingegen sah die innere Sicherheit oder gar die Existenz des ersten sozialistischen Staates der Geschichte gefährdet. Es sei „Verrat“ an der Revolution, den Vormarsch deutscher Truppen nicht zu stoppen.

Gegenwärtige Vergangenheit

In sowjetischer Zeit genügte es, Lenins strategische Weitsicht zu rühmen, sich weitere Details über Brest-Litowsk aber zu ersparen. Heute, hundert Jahre später, bringt die Wiederbegegnung mit diesem nahezu vergessenen Friedensschluss selbst hartgesottene russische Patriot*innen in Erklärungsnöte. Auch das Stigma, die Bolschewiki hätten mit den Deutschen ein Komplott geschmiedet, hält sich unter Anhänger*innen von Verschwörungstheorien hartnäckig. Vor allem jedoch ruft der Separatfrieden in Erinnerung, wie vielschichtig die Folgen dieses Hasardspiels in internationaler Politik gewesen sind. In der ukrainischen Geschichtsschreibung wird auf die implizite Anerkennung eines unabhängigen Staates verwiesen, auch wenn sie einem deutschen Protektorat mit dem Ziel ökonomischer Ausbeutung geschuldet gewesen sei. Jede der unterschiedlichen nationalen Perspektiven auf das „System Brest-Litowsk“ (die bulgarische und die türkische werden meist vernachlässigt) hat gute Argumente für sich. Sowohl einzeln als auch in der Summe reichen sie aber nicht aus, die Implikationen für die Geschichte Ostmitteleuropas zwischen Elbe und Dnepr und für Südosteuropa abzubilden. Brest-Litowsk bedeutet bis heute ein zwiespältiges Erbe insofern, als nicht alle Staaten, die unter fortdauernden Kriegshandlungen gegründet, und nicht alle Grenzen, die unter prekären völkerrechtlichen Bedingungen gezogen wurden, Bestand hatten bzw. nachträglich durch eine allgemeine friedensvertragliche Regelung bestätigt und garantiert wurden.

Wie wir den Vertrag letztlich auch bezeichnen – als „Diktatfrieden“, „Brotfrieden“ oder „Gewaltfrieden“ – er war ein ernsthafter Versuch, den Weltkrieg zu beenden. Gleichwohl deckte er konkurrierende Interessen auf, die praktische Kompromisse erschwerten. Allein die Kriegskoalitionen erzeugten innere Spannungen, die den Ausweg aus dem „totalen Krieg“ und eine gerechte Friedensordnung behinderten. Schließlich weckte das Selbstbestimmungsrecht, wie Lenin und der amerikanische Präsident Wilson es verkündeten, utopische Erwartungen, die in der Praxis kaum einlösbar waren. Die Hoffnungen, die in den imperialen Kollaps gelegt wurden, erwiesen sich oftmals als trügerisch.


Prof. Dr. Nikolaus Katzer ist Direktor des Deutschen Historischen Instituts Moskau.