ZOiS Spotlight 42/2018

Armenien: Revolution vor der Vollendung?

Von Silvia Stöber 05.12.2018
Feierliche Stimmung in Armenien im Frühjahr 2018: Die Parlamentswahlen sollen die friedliche Revolution nun zu Ende führen. zerega / Alamy Stock Foto

Wenn in Armenien am 9. Dezember ein neues Parlament gewählt wird, dann steht ein friedlicher Machtwechsel vor dem Abschluss. Begonnen hatte er mit der „samtenen Revolution“ im Frühjahr dieses Jahres, als der Politiker Nikol Paschinjan und seine Mitstreiter eine landesweite Protestwelle initiierten.

Die schiere Anzahl der Hunderttausenden Demonstranten trieb den Republikaner Sersch Sargsjan im April aus dem Amt. Er hatte darauf spekuliert, sich mit einer Verfassungsreform und dem Wechsel vom Präsidentenamt zum Premierministerposten an der Macht halten zu können. Unterschätzt hatten er und die Republikaner den massiven Verdruss der Bevölkerung darüber, wie sie die politische Macht zu ihrem wirtschaftlichen Vorteil auf Kosten der Menschen ausgenutzt hatten.

Doch auch wenn die republikanischen Abgeordneten unter dem Druck der Bevölkerung die Wahl Paschinjans zum Premierminister nicht verhinderten, nutzten sie ihre Mehrheit im Parlament auch gegen ihn: Anfang Oktober versuchten sie, durch eine Änderung der Geschäftsordnung die Ausrufung einer vorgezogenen Parlamentswahl zu erschweren.

Macht von der Straße gegen Macht im Parlament

Doch erneut gelang es Paschinjan, per Facebook Tausende Anhänger zu mobilisieren. Sie harrten stundenlang vor dem Parlamentsgebäude aus, bis er zu ihnen sprach und den Protest mit einem nächtlichen Spaziergang durch Jerewan ausklingen ließ.

Diese neuerliche Machtdemonstration von der Straße erleichterte Paschinjan die Entscheidung, als Premierminister den Rücktritt zu erklären und so das riskante Prozedere zur vorgezogenen Parlamentswahl einzuleiten. Denn in zwei Abstimmungen durften die Abgeordneten keinen Nachfolger wählen, um die Ausrufung der vorgezogenen Wahl zu ermöglichen.

Elf Parteien haben sich für die Abstimmung am 9. Dezember registriert. Es ist davon auszugehen, dass Paschinjans Allianz „Mein Schritt“ ähnlich gut abschneiden wird wie bei der Abstimmung zum Stadtrat von Jerewan im September, bei der sie 81 Prozent der Stimmen erhielt.

Es liegt nicht nur daran, dass sich die Republikaner durch ihr Verhalten weiter diskreditiert haben. Paschinjans Bewegung gelang es auch, der Bevölkerung nachhaltig den Eindruck zu vermitteln, grundlegende Verbesserungen im Land herbeiführen zu können. Zumindest sprachen im Oktober weiterhin viele Menschen vom „neuen Armenien“. An Schulen, Universitäten und Institutionen begehren nicht nur junge Leute gegen Korruption und Obrigkeitsdenken auf.

Noch im Frühjahr begannen Ermittlungen gegen die berüchtigtsten Geschäftsleute im Land. Auch Ex-Präsident Robert Kotscharjan geriet ins Visier der Behörden wegen seiner Rolle bei der brutalen Niederschlagung von Protesten im Jahr 2008, bei denen zehn Menschen getötet wurden. Weil zudem Armeegeneral Juri Chatschaturow kurzzeitig festgenommen wurde, reagierte die russische Regierung verärgert. Chatschaturow war zu der Zeit Generalsekretär der von Russland dominierten Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS/CSTO).

Kaum Änderungen der außenpolitischen Linien

Sonst jedoch bemühte sich der als liberal geltende Paschinjan in den vergangenen Monaten um gute Beziehungen zu Russland. Auch die Mitgliedschaft Armeniens in der ebenfalls von Russland dominierten Wirtschaftsorganisation Eurasische Union stellte er nicht wie früher in Frage. Im Konflikt um die Region Berg-Karabach nahm er gegenüber Aserbaidschan eine wenig konziliante Haltung ein, wie es der Stimmung der Bevölkerung seit dem „Vier-Tage-Krieg“ im Frühjahr 2016 entspricht. Damals gelang Aserbaidschan die Eroberung von Land.

Dass sich Paschinjan auf Veränderungen im Land konzentriert und nicht zugleich die außenpolitischen Linien vor allem in Bezug auf die militärische Schutzmacht Russland in Frage stellt, aber auch gute Beziehungen zur Europäischen Union sucht, war ein Faktor dafür, dass die wirtschaftlichen und finanziellen Auswirkungen der revolutionären, aber friedlichen Umwälzung begrenzt blieben. Die armenische Währung blieb stabil und das Wachstum solide. Doch hielten sich bislang Investoren aus der weltweit verstreuten armenischen Diaspora zurück. Zu unsicher erschien es ihnen, ob die Republikaner nicht doch die Macht retten könnten.

Paschinjans junger Diaspora-Minister Mkhitar Hayrapetyan, ganz ohne Wurzeln in der Diaspora, zählt wegen seiner wenig überzeugenden Auftritte zu den am meisten kritisierten Mitstreitern Paschinjans. Auch andere Politiker*innen und Mitarbeiter*innen stehen wegen mangelnder Kompetenzen und Kommunikationsfähigkeiten in der Kritik.

Zu viel Macht für Paschinjan?

So besteht eine Sorge in der Frage, wie sich ein künftiger Regierungsapparat unter Paschinjan zusammensetzen könnte. Eine andere ergibt sich aus Bedenken darüber, dass seine Koalition im Abgeordnetenhaus zu stark werden könnte. Zwar erhalten Parteien mit geringerem Stimmenanteil im Verhältnis mehr Parlamentssitze, aber sie müssen alle zunächst eine Fünf-Prozent-Hürde nehmen.

Ein Problem ist auch, dass Paschinjans Koalition nach wie vor eher eine Sammlungsbewegung ist, deren politisches Profil noch kaum erkennbar ist. Deshalb gibt es Überlegungen unter Anhänger*innen, verschiedene Fraktionen mit klar liberaler, grüner oder auch sozialdemokratischer Ausrichtung zu gründen und so offene Debatten über politische Zielsetzungen und Maßnahmen zu ermöglichen.

Viele zivilgesellschaftliche Aktivist*innen und Mitstreiter*innen in Paschinjans Umfeld stehen ihm konstruktiv kritisch gegenüber. Das könnte ihm helfen, auch künftig nah an der Realität der Bevölkerung zu bleiben. Die größte Herausforderung im Land ist die Bekämpfung der Armut und ein schwaches Sozialsystem. Zugleich sind Maßnahmen nötig, die ausländische Investoren überzeugen, aber auch kleinen Unternehmen vor allem im Agrarsektor helfen, sich zu entwickeln. Dass es funktionieren kann, zeigen der boomende IT-Sektor und die Tourismusindustrie, beides Sparten, in denen die Oligarchen bislang keine Monopolstrukturen hatten entwickeln können.


Silvia Stöber ist als freie Journalistin seit mehr als zehn Jahren auf den postsowjetischen Raum spezialisiert. Sie arbeitet für die ARD, Neue Zürcher Zeitung, Tagesspiegel und weitere Publikationen.