ZOiS Spotlight 1/2017

Rückblick auf die Annexion der Krim 2014

Von Gwendolyn Sasse 15.03.2017
Russian soldiers stand guard an area outside the Ukrainian military base at the Perevalnoye outside Simferopol
Russische Soldaten sichern eine ukrainische Militärbasis auf der Krim. Denis Sinyakov/N-ost

Russlands Annexion der Krim vor drei Jahren schuf durch einen sorgfältig inszenierten Prozess schnell neue Fakten vor Ort. Auf die Besetzung der Halbinsel durch russische Sondereinheiten im Februar 2014 folgte ein von Russland kontrolliertes regionales Referendum über den Status der Krim am 16. März 2014 und darauf ein offizieller Beitrittsantrag der Krim an die Russische Föderation. Daran schloss sich eine programmatische Rede des russischen Präsidenten Vladimir Putin am 18. März an, verbunden mit der Unterzeichnung des Vertrags über den Beitritt der Krim und Sevastopols, und schließlich die Ratifizierung durch den Föderationsrat, dem Oberhaus des russischen Parlaments, am 21. März 2014. Auf diesen Verstoß gegen internationales Recht reagierten die USA und die EU mit Sanktionen. Diese haben an der Situation auf der Krim jedoch nichts verändert. Am Jahrestag der Krim-Annexion lässt sich beobachten, wie sich der Diskurs über die Ereignisse von vor drei Jahren bereits verändert hat: Das Narrativ vom „angestammten Platz“ der Krim in Russland ist heute nicht mehr nur auf russische Kreise begrenzt.

Die Krim-Annexion wird weiterhin von der westlichen Staatengemeinschaft nicht anerkannt, und die Sanktionen von 2014, die im Hinblick auf den Krieg in der Ostukraine noch ausgeweitet wurden, bleiben in Kraft. Doch es ist weithin akzeptiert, dass eine Rückkehr der Krim zur Ukraine auf vorhersehbare Zeit unmöglich ist – zumindest solange, bis sich die innenpolitische Situation in Russland verändert. Ein derartiger Wandel erscheint vor 2024 allerdings unwahrscheinlich. Indessen wird die Krim in westlichen Politikkreisen kaum mehr erwähnt. Sie ist in den Minsk-Verhandlungen, die auf die Beilegung des Krieges in der Ostukraine abzielen, bewusst ausgespart worden. Vor diesem Hintergrund des Ausklammerns und Aufschiebens der Krimthematik hat sich im politischen und öffentlichen Diskurs ein irreführender Subtext verbreitet.

Auch diejenigen, die die Krim-Annexion als inakzeptable Verletzung des völkerrechtlichen Prinzips der territorialen Integrität bezeichnen, räumen den historischen Ansprüchen Russlands eine gewisse Berechtigung ein. Russlands dreihundertjährige Verbindung mit der Krim, die mit der Eingliederung ins Russische Reich unter Katharina der Großen im Jahre 1783 begann, ist ein auch in nicht-russischen Zirkeln weit verbreiteter Topos. Kritik an Russlands Verhalten von 2014 wird häufig von qualifizierenden Aussagen begleitet, etwa dass es nicht überraschend sei, dass Russland sich das, was ihm gehört, zurück geholt habe, dass die Krim ja eigentlich russisch sei und dass die Krimbevölkerung schon immer zu Russland gehören wollte. Damit findet der russische Diskurs, der die Annexion legitimiert, zunehmend Resonanz. Dieses Narrativ übersieht jedoch die Multiethnizität der Krim und ihre Geschichte als eine von vielen verschiedenen Herrschern umkämpfte Region. Insbesondere das Krim-Khanat, das die Krim vom frühen 15. Jahrhundert bis 1783, teils als Protektorat des Osmanischen Reiches, beherrschte, wird darin ausgeblendet; ebenso die Deportation der gesamten krimtatarischen Bevölkerung unter Stalin nach Zentralasien und Sibirien sowie die Rückkehr der Krimtataren en masse nach 1991. Die Erfahrung der Deportation hat die krimtatarische Identität unwiderruflich mit dem Territorium der Krim als nationale Heimat verknüpft. Russische Literatur, vor allem die aus der Feder Puschkins und Tschechows, hat hingegen die „russische“ Krim sowohl im kulturellen Gedächtnis Russlands als auch darüber hinaus verankert. Dies rührt nicht zuletzt daher, dass diese Literatur international besser zugänglich ist, als die mündliche und schriftliche Überlieferung der Krimtataren.

Ebenfalls weit verbreitet ist die griffige Idee von der Krim als Chruschtschows „Geschenk“ an die Ukraine (1954), obwohl die Archivlage zeigt, dass diese extreme Personalisierung des Entscheidungsprozesses hinter dem Transfer der Krim von der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) zur Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik übertrieben ist. In der Tat war der Transfer ad hoc umgesetzt worden und folgte nicht im Detail dem für territoriale Veränderungen vorgesehenen, in der sowjetischen Verfassung definierten Protokoll. In der Post-Stalin-Ära gehörten ad-hoc-Verschiebungen von Grenzen nicht mehr zur Norm sowjetischer Innenpolitik. Somit war die Krim schon 1954 ein Sonderfall, aber die Idee des „Geschenks“ fügt dem, was im Großen und Ganzen ein sowjetischer Verwaltungsakt war, emotionale Strahlkraft bei.

Diese historisch-kulturell bedingte Voreingenommenheit trübt die Erinnerung an die Krim-Annexion 2014. Im Rückblick wird die Sequenz der Ereignisse im Februar und März 2014 inzwischen häufig als eine Reaktion auf die Ansprüche der lokalen Bevölkerung dargestellt. Dabei wird vergessen, dass es 2014 keine regionale Mobilisierung für die „Wiedervereinigung“ mit Russland oder für „Unabhängigkeit“ gab. Beides hatte es auf der Krim Mitte der 1990er Jahre gegeben. Der damalige russische Präsident Boris Jelzin hatte diese Bewegungen damals bewusst nicht unterstützt und damit den Weg für die schrittweise Integration der Krim in die unabhängige Ukraine freigemacht. Als einzige Region in der Ukraine verfügte die Krim über einen, zum großen Teil symbolischen, aber verfassungsrechtlich verankerten Autonomiestatus. Von Kiews Seite aus wurde zudem kein nachhaltiger Versuch unternommen, den Gebrauch der russischen Sprache einzuschränken, und schließlich war die Region ein fester Bestandteil der Machtgrundlage des Janukowytsch-Regimes in den östlichen und südlichen Regionen des Landes gewesen.

2014 ermöglichte ein spezifischer politischer Kontext die Mobilisierung eines latenten pro-russischen Gefühls auf der Krim. Dies geschah, als die Besetzung durch russische Truppen bereits erfolgt war – und nicht vorher. Der Euromaidan und Janukowytschs Entscheidung, die Ukraine zu verlassen, schufen die Gelegenheit für Putins Umsetzung eines sorgfältig ausgearbeiteten, vom Westen nicht antizipierten Plans.

Die Krim-Annexion war ein extremes Ereignis. Derartige Ereignisse müssen sorgfältig analysiert und interpretiert werden; denn sonst verschwimmen Fakt und Fiktion auch in der westlichen Wahrnehmung. Nur wenn wir uns bewusst an die Sequenz der Ereignisse von 2014 und die lange und facettenreiche Geschichte der Krim erinnern, können wir vermeiden, dass wir uns unfreiwillig das russische Narrativ, das die Legimitationsgrundlage für die Annexion der Krim liefert, zu eigen machen.

Gwendolyn Sasse ist die wissenschaftliche Direktorin des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS)