ZOiS Spotlight 17/2017

Helfer in der Not

Von Hannah Heyenn 05.07.2017
Flüchtlingskind in Ungarn: Tausende Freiwillige haben Geflüchtete mit Essen, Kleidern und Medizin versorgt. Laszlo Mudra/n-ost

Im Zusammenhang mit dem Verfahren der EU-Kommission gegen Ungarn ist die Flüchtlingspolitik des Landes kürzlich wieder in den Fokus geraten. Seit der Flüchtlingskrise im Sommer 2015 kritisieren Anwälte*innen und Nichtregierungsorganisationen die Asylverfahren in Ungarn als nicht-konform mit internationalen Menschrechtsrechtsstandards. Mit dem Bau eines Zauns entlang der ungarisch-kroatischen Grenze und der Schaffung einer Truppe von „Grenzjägern“ hat die Regierung die massenhafte Einreise von Asylsuchenden nach Ungarn gestoppt.

Im Sommer 2015 hatte Ungarns Regierung eine große Zahl von Geflüchteten nach Budapest gebracht, anstatt sie auf die vielen Aufnahmezentren im ganzen Land zu verteilen. Damit entstand eine Notfallsituation auf den Bahnhöfen, besonders auf Budapests Bahnhof Keleti. Die Ereignisse wurden von einer anti-migrantischen Medienkampagne und einer Plakatkampagne der Regierung begleitet. Die ungarische Regierung benutzte die Geflüchteten auf den Budapester Bahnhöfen, um rassistische Haltungen in der Bevölkerung zu schüren und um zu vermitteln, dass Ungarn weder in der Lage sei, noch die Absicht habe, Geflüchtete aufzunehmen (vgl. TARKI 2016).

Umfragen und ein Referendum über die Flüchtlingsquote 2016 zeigten, dass diese Strategie bei der Mehrheit der Bevölkerung erfolgreich war. Zugleich gab es jedoch eine nie dagewesene Hilfsbereitschaft gegenüber den Geflüchteten. Im Bahnhof Keleti engagierten sich zahlreiche Freiwillige in Übereinstimmung mit Menschenrechtsprinzipien, wohingegen die ungarische Regierung nicht einmal das Notwendigste zur Verfügung stellte. Helfer*innen spielten mit Kindern, gaben Auskünfte, verteilten Essen und boten medizinische Versorgung an. Es wird geschätzt, dass sich in Ungarn insgesamt mehrere tausend Menschen an der Freiwilligenbewegung für die Geflüchteten beteiligt haben (TARKI 2016). Bedenkt man den gravierenden Mangel an zwischenmenschlichem Vertrauen und das hohe Maß an Fremdenfeindlichkeit in Ungarn sowie das generell niedrige Niveau an Freiwilligenarbeit in den postsozialistischen Ländern, so überrascht die große Zahl derer, die geholfen haben.

Wer sind diese Menschen und warum entschlossen sie sich zu helfen?

Nicht-repräsentative Umfragen zur Zusammensetzung der Freiwilligenbewegung in der Flüchtlingskrise haben gezeigt, dass die Mehrzahl der Hilfeleistenden Frauen mit hohem Bildungsniveau war. Andere hoben den hohen Anteil jüdischer Freiwilliger hervor (TARKI 2016). Zwischen August 2015 und September 2016 habe ich Interviews mit in Ungarn geborenen Flüchtlingshelfer*innen geführt und damit die Lebensgeschichten, Wertesysteme und Motive der Freiwilligen näher untersucht.

Vertrauen und Wertesysteme

Während zwischenmenschliche Vertrauenswerte bei den Befragten viel höher lagen als in der ungarischen Gesamtbevölkerung (nach dem European Social Survey), war das Vertrauen in Institutionen, Politiker*innen und politische Parteien gleichermaßen niedrig, das in die ungarische Regierung sogar noch niedriger. Die befragte Gruppe war pro-EU; das stärkste Vertrauen hatte sie in das Europäische Parlament. Auf individueller Ebene waren einige Informant*innen Mitglieder der kosmopolitischen, pro-westlichen Elite. Sie hatten Eliteschulen besucht, hatten hohe Positionen im akademischen oder kulturellen Bereich inne und besaßen ein hohes Maß an sozialem, ökonomischem und kulturellem Kapital. Alle waren offen gegenüber anderen Kulturen und hatten bereits Kontakte mit Nicht-Ungar*innen, entweder während ihrer Ausbildung, durch internationale Freiwilligendienste, bei der Arbeit in internationalen Unternehmen oder mit Reisenden durch Couchsurfing.

Motive für das Engagement

Viele der Befragten positionierten sich gegen die Fidesz-Regierung, wenn auch nicht einheitlich, doch Politik wurde selten als Motivationsgrund genannt. Die tatsächlichen Beweggründe waren humanistische Ziele und eigene Entbehrungserfahrungen. Bei den traditionsverhafteten, konservativen Helfern*innen, unter ihnen einige ehemalige Fidesz-Wähler*innen, kollidierte das Ausmaß der Anti-Flüchtlingskampagne mit ihrem humanistischen oder religiösen Weltbild. Soziale Verantwortung und Solidarität waren entscheidende Motive, besonders für die Befragten in höheren Positionen. Die sozialistische Vergangenheit kam in allen Interviews zur Sprache: Entbehrungen, Diskriminierung und mangelnde Freiheit in der eigenen Familie erfahren zu haben, verstärkte den Wunsch zu helfen. Für die Freiwilligen mit jüdischem Hintergrund waren der Holocaust und die Unterdrückung der jüdischen Kultur zu Sowjetzeiten relevante Punkte. Zusätzlich scheint das Mitwirken in den nach 1989 wiederbelebten jüdischen Gemeinden ein zentraler Grund für ehrenamtliches Engagement zu sein.

Flüchtlingshilfe und Zivilgesellschaft

Alle Befragten beschrieben, wie sie Geflüchteten zunächst individuell geholfen haben, etwa auf dem täglichen Arbeitsweg. Einige wurden von Freunden oder Verwandten zum Ort des Freiwilligeneinsatzes gebracht. Hilfsorganisationen wie Hungarian Association for Migrants (Menedék) oder Migrant Solidarity (MigSzol) koordinierten die Helfer*innen an den Einsatzorten. Außerdem bildeten Freiwillige eine Graswurzelbewegung und nutzten soziale Medien zur Rekrutierung und zum Netzwerken. Neue Gruppen wie Migration Aid (MA) und SEM (Segítsünk Együtt a Menekülteknek – Helfen wir den Geflüchteten gemeinsam) brachten es auf mehr als 10.000 Gruppenmitglieder bei Facebook (TARKI 2016).

Ein großer Teil der Graswurzelaktivitäten ebbte ab, nachdem die Zahl der Flüchtlinge im Herbst 2015 rapide zurückgegangen war. Gruppen, die vor der Krise bestanden hatten, führten ihre Arbeit, beflügelt durch neue Freiwillige und Projektideen, fort. Die größten Graswurzelbewegungen SEM und MA konzentrierten sich auf die Armenfürsorge (Helfen wir gemeinsam!) und die Integration der in Ungarn verbliebenen Geflüchteten (Keleti Group, Helpers by Heart) (TARKI 2016).

Obwohl die Befragten keine große Hoffnung auf eine vereinte Opposition hatten, unterstützten die Helfern*innen und von ihnen betreuten Geflüchteten während des Anti-EU-Referendums 2016 die Spaßpartei Ungarische Partei des zweischwänzigen Hundes (Magyar Kétfarkú Kutya Párt, MKKP), die mit ihrer Kampagne darauf abzielte, die Bedeutung des Referendums zu verringern. Damit sollte die Strategie von Fidesz, das Referendum als Argument gegen einen bindenden Flüchtlings-Rahmenplan der EU zu benutzen, untergraben werden.

Zwei Jahre später ist etwa die Hälfte der Informant*innen immer noch aktiv. Sie organisieren beispielsweise interkulturelle Jugendcamps oder betreuen Geflüchtete im Alltag. Andere bleiben in Kontakt, um sich über politische Entwicklungen auszutauschen und an Kundgebungen teilzunehmen, wie etwa jüngst der Protest gegen die geplante Schließung der Central European University.


Hannah Heyenn ist Assoziierte Forscherin im internationalen Projekt PREWORK. Der vorliegende Text basiert größtenteils auf Daten aus ihrer eigenen Forschung.