ZOiS Spotlight 20/2017

Ein vorsichtiger Blick zurück

Von Nina Frieß 26.07.2017
Das Denkmal für die Opfer der Stalinistischen Repressionen im Moskauer Skulpturenpark. Nina Frieß

Am 30. Juli 1937 unterzeichnete Nikolaj Jeschow, Chef des Volkskommissariats für Inneres (NKWD), den operativen Befehl Nr. 00447 „Über die Operation zur Repression ehemaliger Kulaken, Krimineller und anderer antisowjetischer Elemente“, der einen Tag später vom sowjetischen Politbüro bestätigt wurde. Anders als vorherige Operationen richtete sich diese gegen die breite Bevölkerung: Durch Befehl 00447 konnte de facto jeder Bürger zum „Volksfeind“ erklärt und verhaftet werden. Die genauen Opferzahlen sind bis heute umstritten, Historiker*innen schätzen, dass etwa 800.000 Personen festgenommen und bis zu 350.000 ermordet wurden.[1] Das Jahr 1937 bildet damit den traurigen Höhepunkt des sogenannten Großen Terrors, der von 1936 bis 1938 andauerte und etwa 700.000 Menschen das Leben kostete.[2] Die Zahl der Repressierten steigt deutlich, betrachtet man den gesamten Herrschaftszeitraum Josef Stalins: So geben Forscher*innen die Zahl derjenigen, die zwischen 1929 und 1953 Haftstrafen in Arbeitslagern verbüßten, mit rund 20 Millionen an.[3]

Kurz bevor sich der Tag der Unterzeichnung von Befehl 00447 das 80. Mal jährt, veröffentlichte das Allrussische Zentrum der Erforschung der öffentlichen Meinung (WCIOM), das führende staatliche Meinungsforschungsinstitut Russlands, eine Umfrage zur Wahrnehmung der stalinistischen Repressionen in der russischen Bevölkerung. Die gemeinsam mit dem Moskauer Museum der Geschichte des Gulags und der Stiftung Gedächtnis erarbeitete repräsentative Umfrage zeigt einmal mehr, wie sehr die russische Gesellschaft in Erinnerungsfragen gespalten ist, birgt aber auch einige überraschende Erkenntnisse. So geben 90 Prozent und damit die große Mehrheit der Respondent*innen an, von den stalinistischen Repressionen gehört zu haben. Angesichts der derzeitigen staatlichen Überbetonung der positiven Seiten der russischen Geschichte, bei einer gleichzeitigen Ausblendung, wenn auch nicht Verleugnung der negativen Seiten, ist diese Zahl bemerkenswert. Sie geben jedoch keine Auskunft darüber, was genau die Befragten über die Repressionen während der Herrschaftszeit Stalins wissen.

Gefragt wird indes nach den Quellen der Kenntnisse. Hier zeigt sich ein weiterer interessanter Befund: Mehr als die Hälfte (52 Prozent) der Befragten gibt an, ihre Informationen über die stalinistischen Repressionen aus dokumentarischer Literatur bezogen zu haben. Es ist anzunehmen, dass die Respondent*innen darunter von Zeitzeugen wie Alexander Solschenyzin, Warlam Schalamow oder Jewgenija Ginsburg verfasste Literatur verstehen. Solschenizyns 1962 mit ausdrücklicher Genehmigung der sowjetischen Führung veröffentlichte Powest Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch war der erste Text, in dem in der Sowjetunion (für die damaligen Verhältnisse) offen über die Existenz der sowjetischen Arbeitslager geschrieben werden durfte. Der Text war eine Sensation. Unmittelbare Folgen für den offiziellen Umgang mit diesem Teil der sowjetischen Vergangenheit hatte er allerdings nicht, mit dem Machtwechsel von Nikita Chruschtschow zu Leonid Breschnew endete die Tauwetterperiode in der Sowjetunion. Autor*innen wie Schalamow und Ginsburg konnten ihre Texte bereits nicht mehr legal veröffentlichen, sie kursierten im Sam- und Tamisdat, wurden also im Untergrund oder Ausland veröffentlicht. Seit der Perestroika erfuhren sie zahlreiche Neuauflagen und andere Formen der Aktualisierung. Die WCIOM-Umfrage zeigt nun, dass die Bedeutung der ersten Zeugnisse über die stalinistischen Repressionen für deren Erinnerung nach wie vor hoch ist.

An zweiter Stelle (48 Prozent) der Informationsquellen folgen Erzählungen von Verwandten und Bekannten, an dritter (46 Prozent) Nachrichten- und dokumentarische Programme in Funk und Fernsehen. Der Geschichtsunterricht als staatlich institutionalisierte Form der Geschichtsvermittlung landet mit 37 Prozent erst auf Platz 6.

In der Umfrage findet sich auch eine Frage dazu, ob es in der Familie der Respondent*innen von den stalinistischen Repressionen betroffene Personen gegeben habe. Lediglich 24 Prozent bejahen das, allerdings weiß nicht einmal die Hälfte dieser Personen genaueres über das Schicksal ihrer repressierten Verwandten. 71 Prozent verneinen die Frage, fünf Prozent können sie nicht beantworten. Je nachdem, was man unter den stalinistischen Repressionen versteht, ob man lediglich die Repressionen während der Zeit des Großen Terrors oder während der gesamten Herrschaftszeit Stalins einbezieht, ist dieses Ergebnis erstaunlich; schließlich war, wie der französische Historiker Nicolas Werth formuliert, über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren „jeder sechste Erwachsene inhaftiert“[4]. Demnach wäre eine wesentlich größere familiäre Betroffenheit anzunehmen. Bedenkt man, dass es sich bei dem Thema lange um ein gesellschaftliches Tabu handelte, über das – zum eigenen wie zum Schutz der Angehörigen – selbst im engsten Familienkreis nicht gesprochen wurde, scheint es wahrscheinlich, dass viele Betroffene heute einfach nicht wissen, dass ihre Großeltern oder Urgroßeltern repressiert wurden.

Auch bei der Beurteilung der Frage, welche Menschen unter Stalin politisch verfolgt wurden, zeigt sich, dass viele Respondent*innen über nur geringes Detailwissen über die stalinistischen Repressionen verfügen. Unter den sieben vorgegebenen Antworten (bei der Möglichkeit, zwei Antworten auszuwählen) entscheiden sich die meisten Befragten (37 Prozent) für „mit der Politik der Macht Unzufriedene“, dem folgt die Kategorie „Volksfeinde, Verräter, Verschwörer“ (24 Prozent) und „Diebe, Gauner, Verbrecher“ (23 Prozent). Die – für den Großteil der Betroffenen zutreffende – Antwortmöglichkeit „Unschuldige“ ist nicht vorgesehen, am nächsten kommt dem noch die Antwort „Ehrliche, Offene“, für die sich aber nur 16 Prozent entscheiden. Dieses Ergebnis ließe sich auch als eine Folge der Relativierung der Repressionen verstehen, die seit einigen Jahren von staatlicher Seite betrieben wird.

Die bekannte Kluft in der russischen Erinnerungskultur offenbart sich in der Frage, wie die stalinistischen Repressionen zu bewerten seien. Hier entscheiden sich 47 Prozent der Befragten für die Antwortmöglichkeit, dass die Repressionen durch nichts zu rechtfertigen und ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit seien. Dem stehen 43 Prozent gegenüber, die die Repressionen für notwendige Maßnahmen halten, durch die Stalin die Ordnung in der sowjetischen Gesellschaft erhalten konnte. In dieser Antwort spiegelt sich der hohe Stellenwert der Systemstabilität wider, der auch immer wieder von der russischen Regierung betont wird, etwa wenn es um die Revolutionen von 1917 geht.

Gefragt nach dem künftigen Umgang mit den stalinistischen Repressionen, beinhaltet die Umfrage eine weitere Überraschung: Nur 22 Prozent der Respondent*innen stimmen der immer wieder von politischen Akteuren zu hörenden Aussage zu, Erzählungen über die Repressionen wirkten sich negativ auf das Image des Landes aus und sollten daher nicht unnötig verbreitet werden. Dem gegenüber stehen 72 Prozent, die meinen, es müsse mehr über die Opfer der Repressionen gesprochen werden, damit sich solche Ereignisse nicht wiederholten. Deutlich wird hier allerdings auch, dass eine Auseinandersetzung über die Täter nach wie vor nicht angestrebt wird und sich die erinnerungskulturelle Debatte – wenn überhaupt – auf die Opfer fokussiert.


Nina Frieß ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZOiS.


[1] Vgl. Binner, Rolf /Bonwetsch,Bernd /Junge, Marc (2009): Massenmord und Lagerhaft: Die andere Geschichte des Großen Terrors, Berlin, S. 662.

[2] Vgl. Bonwetsch, Bernd: Der „Große Terror“ – 70 Jahre danach. In: Zeitschrift für Weltgeschichte. 9. Jg. 2008, H. 1, S. 123–145, hier S. 128 f.

[3] Siehe z. B. Werth, Nicolas: Der Gulag im Prisma der Archive. Zugänge, Erkenntnisse, Ergebnisse, in: Osteuropa 6/2007, S. 9-30, hier S. 30.

[4] Werth, Nicolas: Der Gulag im Prisma der Archive. Zugänge, Erkenntnisse, Ergebnisse, in: Osteuropa 6/2007, S. 9-30, hier S. 30.