ZOiS Spotlight 23/2017

Die Regionalwahlen in Russland

Von Tomila Lankina 20.09.2017
Wahlhelfer*innen bei der Stimmenauszählung. PereslavlFoto/Wikimedia Commons

Am 10. September 2017 wurden in einigen Regionen Russlands neue Regionalparlamente, Gemeinderäte und Gouverneure gewählt. In zwei Regionen wurden zudem Nachwahlen zur Staatsduma abgehalten. Die Ergebnisse brachten kaum Überraschungen. Wie erwartet behaupteten sich die Kandidat*innen der pro-Kreml Partei Einiges Russland bei der Mehrheit der zur Wahl stehenden Sitze in sechs Regionalparlamenten – sie gewannen 240 von 309 Regionalparlamentsmandaten und 101 von 119 Direktmandaten. Allerdings konnten Kandidat*innen der Opposition bedeutende Gewinne in einigen Wahlbezirken Moskaus auf kommunaler Ebene verzeichnen. Von insgesamt 1.502 der in die Kommunalparlamente Moskaus gewählten Abgeordneten gehören 266, also etwa 18 Prozent, der sogenannten Gudkow-Liste von unabhängigen und oppositionellen Kandidat*innen an, die der Aktivist Dmitri Gudkow unter dem Dach der Organisation Vereinte Demokraten zusammengeführt hat.

Kontroverse in Maßen

Auch wenn die Ergebnisse als erfolgreich für die Opposition bejubelt wurden, knüpfen sie im Grunde an das stets starke Abschneiden der prodemokratischen oder auf andere Weise systemkritischen Parteien in den Moskauer Wahlbezirken an. 2013 hatte der charismatischen Anwalt und Anti-Korruptions-Aktivist Alexei Nawalny für das Amt des Moskauer Bürgermeisters kandidiert. Allem Anschein nach hatte das Regime nicht mit dem starken Rückhalt der Moskauer Wählerschaft für Nawalny gerechnet. Trotzdem zeigte die Tatsache, dass er vom Rennen um das Amt nicht ausgeschlossen wurde, die traditionell höhere Toleranz für liberale Parteien und Kandidat*innen in Russlands Hauptstadt. Wie bei früheren Bürgermeister- und Kommunalparlamentswahlen ist es ein wichtiger Teil der Strategie von Präsident Wladimir Putin, ein gewisses Maß an Kritik seitens der Anti-Regime-Aktivist*innen zuzulassen. Ebenso gehört zu dieser Strategie jedoch, Oppositionsvertreter*innen vom Rennen um Sitze in der Staatsduma oder um das Präsidentschaftsamt auszuschließen.

Ein weiterer Grund, etwas Raum für politische Kontroversen in großen Städten wie Moskau zu gewähren, ist die Bilanz der Massenproteste in den Jahren 2011 und 2012. Obwohl die meisten Bürger*innen nicht regelmäßig an regimekritischen Demonstrationen teilnehmen, ist Bürgeraktivismus in Städten ein weit verbreitetes Phänomen in Russland. Untersuchungen der russischen Bürgerproteste haben gezeigt, dass Bürger*innen, die sich gegen korrupte Lokalpolitiker und skrupellose Unternehmer mobilisieren, Netzwerke und Bündnisse mit anderen Grassroots-Aktivisten und Kommunalräten bilden. Proteste gegen Lohnrückstände, sinkende Lebensstandards und mangelnden Service in der öffentlichen Verwaltung haben in den vergangenen Monaten ebenfalls zugenommen. Bei der Ausgestaltung der Wahlstrategie ist sich das Regime bewusst, dass der Vorwurf offenkundiger Manipulationen im Vorfeld der Wahlen und des Wahlbetrugs am Tag der Abstimmung selbst, das Potenzial besitzt, Menschen in großen Städten auf die Straße zu bringen.

Hinweise auf Manipulation

Gleichzeitig gibt es starke Anhaltspunkte dafür, dass das Regime die Wahlbeteiligung und das Resultat am 10. September manipuliert hat. Die Leiterin der russischen Wahlkommission Ella Pamfilowa vermeldete mehr als 500 Beschwerdeanrufe bei der Hotline der Kommission allein in Moskau. Zusammen mit der Stadt Saratow, in der Regionalparlaments- und Gouverneurswahlen stattfanden, steht Moskau damit an der Spitze der Bürgerbeschwerden über Wahlfälschung.

Anderenorts griffen Amtsinhaber auf die Taktik zurück, Wahlbeobachter einzuschüchtern und zu bedrohen, Pensionären finanzielle Anreize anzubieten, wenn sie für Einiges Russland stimmen, Stimmenkauf und andere bewährte Formen der Manipulation und des Betrugs. Aber auch neue Manipulationsmöglichkeiten wurden ausgelotet, die bei den Präsidentschaftswahlen 2018 zum Einsatz kommen könnten. Im Verwaltungsbezirk Swerdlowsk wurden auffällige Wahlbeteiligungsmuster in der Wahl um den Gouverneursposten verzeichnet. Gouverneurswahlen in Russland wurden zunächst 2004 abgeschafft, jedoch 2012 wieder eingeführt, allerdings mit einem neuen „kommunalen Filter“:  Dabei können die Kandidat*innen nur mit den Unterschriften eines Teils der Abgeordneten der Versammlungen – die in den meisten Fällen kremltreu sind – antreten. Der Bürgermeister von Jekaterinburg Jewgeni Roisman, ein prominenter Oppositioneller, rief die Bürger*innen dazu auf, die Wahlen zu boykottieren; die Wahlbeteiligung fiel tatsächlich niedrig aus.

Wahlbetrug nimmt zu

Es zeichnet sich als Trend ab, dass sich Wahlmanipulationen in Regionen mit bedeutender Unterstützung für die regimekritische Opposition häufen. Wissenschaftler*innen haben die Tendenz dieser Wahlmanipulationen, sich über die Regionen und nachfolgende Wahlen auszubreiten, treffend als „Betrugs-Metastasen“ beschrieben. In einigen Regionen zeigt sich jedoch eine anhaltend hohe Wahlbeteiligung und viele abgegebene Stimmen für Kreml-unterstützte Parteien oder Kandidat*innen. Das sind häufig Regionen, die traditionell von Steuerzuwendungen aus Moskau abhängig sind, oder wo das Management großer Unternehmen ihre Belegschaft mobilisiert, für diese Parteien oder Kandidat*innen zu stimmen.

Mit anderen Worten: Wahlbetrug und Manipulation kommt am häufigsten in den Regionen vor, in denen man damit ungestraft davonkommt. Russlands jüngere Wahlgeschichte deutet darauf hin, dass selbst wenn in einigen Regionen oder Bezirken ein gewisses Maß an Kritik zugelassen wird, in vielen anderen Einiges Russland oder andere kremltreue Parteien Wahlsiege erreichen können – etwa durch Wahlbetrug und Wählereinschüchterung. Damit das Regime an der Macht bleibt, ist eine flächendeckende Manipulation in ganz Russland nicht notwendig, da es sich auf Wahlsiege in den traditionell kremltreuen Regionen verlassen kann.

Die starke Präsenz der Opposition in den Moskauer Wahlbezirken bedeutet also nicht zwangsläufig einen Schritt in Richtung eines umfassenden Systemwandels. Zusammen mit den Manipulationshinweisen in anderen Regionen spiegeln die Ergebnisse einen allgemeinen Trend wider: Der Kreml öffnet sich gegenüber öffentlichen Kontroversen, jedoch in einem Maß, das das Machtgefüge in Russland nicht untergräbt. Es bleibt abzuwarten, ob diese Strategie die Bekundungen allgemeiner Unzufriedenheit mit dem Regime während der Präsidentschaftswahlen im März 2018 im Zaum halten kann.


Tomila Lankina ist Professorin für Internationale Beziehungen am International Relations Department der London School of Economics and Political Science. Ihre Forschung zu Bürgerprotesten in Russland ist auf ihrer Webseite zugänglich: popularmobilization.net.