Meet the Author | Félix Krawatzek

„In Russland ist Jugend nicht zwangsläufig progressiv“

13.12.2018

In seinem kürzlich erschienenen Buch „Youth in Regime Crisis. Comparative Perspectives from Russia to Weimar Germany” untersucht Félix Krawatzek die politische Mobilisierung Jugendlicher sowie die Bedeutung von Jugend in Krisenmomenten.

Félix Krawatzek. ZOiS

Was war Ausgangspunkt für dieses Buch?

Während meiner Reisen quer durch Russland zu Beginn meines Studiums beobachtete ich, wie aktiv die russische Jugend an politischen Protesten teilnahm. Zum einen mobilisierten sich Jugendliche für demokratische und liberale Ideale. Zum anderen, insbesondere in den Jahren 2005 und 2006, sah man auch viele Jugendliche, die an regierungstreuen und regimeunterstützenden Organisationen beteiligt waren. Was mir auffiel, war ein relativ widersprüchliches Bild von Jugend und ein Widerspruch zu dem, was in der bisherigen Forschung dominiert, in der häufig ein Bild von Jugend als fortschrittlicher Akteur gezeichnet wird. In Russland ist Jugend nicht zwangsläufig progressiv.

Außerdem gab es zwar Untersuchungen zu Jugendbewegungen, jedoch kaum darüber, wie über diese Jugendlichen gesprochen wird. Zum Beispiel wie Jugend im politischen Raum genutzt wird; wie Regime versuchen, sich durch das Symbol von Jugend zu legitimieren. Dies passierte in Russland besonders stark nach 2005. Die Jugend wurde genutzt, um ein alterndes, infrage gestelltes Regime zu verjüngen und wieder mit Legitimität zu behaften, indem man versuchte die Jugend an die politische Führung anzubinden.

Wonach haben Sie Ihre Fallauswahl getroffen?

Angefangen habe ich mit der zentralen Fallstudie Russland. Den ersten naheliegenden Vergleichsfall bildete der Zusammenbruch der Sowjetunion. Das politische System in den 1980ern ist natürlich ein anderes als in den 2000er Jahren, aber es handelt sich nicht um einen komplett anderen Fall, da wir es mit autoritären Regimen zu tun haben. Während die Sowjetunion zusammenbrach, konnte sich das gegenwärtige Regime durch die Anbindung von Jugend stärken. Dann war meine Idee, auch westliche Regimekrisen des 20. Jahrhunderts einzubeziehen. Die demokratische Weimarer Republik erfuhr eine der wirkmächtigsten Krisen dieser Zeit. Und zuletzt richtete sich mein Blick auf Frankreich, wo wir auch ein demokratisches Regime als Ausgangsbasis haben, das am Ende überlebt. Das sind vier Fälle, bei denen der Regimetyp variiert und gleichzeitig das Resultat des Krisenmoments ein anderer ist. In all diesen Fällen stellte sich die Frage, was eigentlich in einem Regime mit dem Diskurs über Jugend passiert? Wie versucht sich ein Regime durch Jugend zu legitimieren?

Sie erwähnen, dass sich die Bedeutung von Jugend in Krisenmomenten radikal veränderte. Wie ist dies zu verstehen?

Eine Krise ist ein Moment möglicher gesellschaftlicher und politischer Veränderungen, dadurch, dass sich politische Parameter öffnen und der Handlungsspielraum für politische und gesellschaftliche Akteure größer wird. In solchen Momenten ist der Jugendbegriff unglaublich verführerisch, da man über das Symbol Jugend sehr viele Ideen verhandeln kann, die sich über Begriffe wie Demokratie oder Partizipation nicht unbedingt verhandeln lassen. Jugend ist ein flexibler Begriff, und wenn man als politische Führung die Vergangenheit eines Landes evaluiert sowie in die Zukunft blickt, ist die Argumentation über Jugend eine, die besonders schlagkräftig sein kann. Solch eine Verbindung von vergangener zu gegenwärtiger Jugend konnte man 2005 und 2006 in Russland beobachten, wo der Aufruf der Politik lautete, dass die heutige Jugend sich genauso stark für die Verteidigung Russlands engagieren müsse, wie die Jugend der 1940er Jahre es in der Verteidigung gegen die Faschisten tat. Auf der anderen Seite geht der drohende Verlust der Autorität über den Begriff Jugend in solch einem Krisenmoment mit Zweifeln an der Glaubwürdigkeit des Regimes einher. Denn Protest oder Kritik von Jugendlichen kann ziemlich medienwirksam sein und ein ganzes politisches Regime oder gesellschaftliches Gefüge infrage stellen.

Sie schreiben, dass Jugend als sozialpolitische Kategorie in der Vormoderne keine Relevanz hatte. Sind Jugendbewegungen demnach noch ein junges Phänomen, deren Bedeutung sich erst entwickeln muss?

Es ist tatsächlich ein relativ junges Phänomen. In der Zeit vor der Industrialisierung hatte die Idee von Jugend keine Relevanz für politische Bewegungen. In der Französischen Revolution beispielsweise waren viele Teilnehmenden in ihren Zwanzigern. Trotzdem spricht niemand über die Französische Revolution als ein Jugendereignis, weil die Kategorie Jugend zu der damaligen Zeit noch gar nicht als gesellschaftliche Kategorie ausgebildet war. Insbesondere in der Zwischenkriegszeit fand man sich selbstbewusst als Jugendbewegung verstehende politische Gruppierungen vor. Doch Jugendbewegungen entwickeln sich immer neu, einfach, weil die Teilnehmenden immer andere sind. Dadurch wird auch die Kategorie Jugend permanent neu besetzt. Dies wiederum geht mit einer ständigen Verschiebung dessen einher, was eigentlich unter jugendlicher politischer Teilhabe zu verstehen ist. Wenn ich an den russischen Fall zurückdenke, so sind viele derjenigen, die 2005 bis 2007 aktiv waren, heutzutage natürlich keine Jugendlichen mehr und häufig auch nicht mehr politisch aktiv. Somit gibt es die damaligen Bewegungen zumeist nicht mehr. Die Herausforderung, die alle Jugendbewegungen teilen ist die Frage, wie sie Kontinuität herstellen können.

Wie wird sich die oppositionelle Jugend in Russland auf der einen und die pro-Kreml Jugend auf der anderen Seite künftig weiterentwickeln?

Die sehr lautstarke und sichtbare oppositionelle Jugend nehmen wir auch in den westlichen Medien wahr. Zahlenmäßig bleibt diese Jugend aber nach wie vor sehr klein und hat, glaube ich, zurzeit kein eigenes Sprachrohr in Russland. Auch ist für mich im Augenblick kaum zu sehen, dass es wirklich als Jugendbewegung verstandene Proteste gibt. Es gibt eine relativ große Gruppe an Jugendlichen, die das bestehende Regime schweigend unterstützt und niemals das Risiko eingehen würde, sich ihr Leben zu destabilisieren, indem sie auf die Straße gehen. Doch auch die aktive Unterstützung des Regimes ist momentan wenig wirksam institutionalisiert. Allerdings kann in diese Situation sehr schnell wieder Bewegung hineinkommen. Das Regime ist momentan unter Druck und es ist durchaus reizvoll, sich mit der Jugend zu legitimieren. Insofern würde es mich nicht überraschen, wenn wir künftig wieder größeres Interesse seitens der Regierung sehen, die Jugend sichtbar einzubinden und zur Unterstützung des Regimes zu verwenden.

Das Gespräch führte Victoria Bruhl, studentische Hilfskraft im Bereich Kommunikation des ZOiS.


Félix Krawatzek ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am ZOiS. Sein Forschungsprojekt beschäftigt sich mit Jugendlichen als politische Akteure sowie Projektionsfläche gesellschaftlicher Erwartungen.

Félix Krawatzek (2018): Youth in Regime Crisis: Comparative Perspectives from Russia to Weimar Germany, Oxford: Oxford University Press.