Spotlight on Ukraine 4

Wie Künstler*innen in der Ukraine die russische Aggression verarbeiten

Von Alina Mozolevska 22.02.2024

Viele ukrainische Künstler*innen setzen sich in ihren Werken mit den verheerenden Folgen der Angriffe Russlands gegen ihr Land auseinander. Vor allem die Zerstörung und der Verlust des Zuhauses ist eine häufige visuelle Metapher für das Kriegstrauma – und ein kraftvolles Mittel, den Schmerz mit anderen zu teilen.

Abb. 1 © Masha Foya (@foya_illustrations)

Aus dem Englischen übersetzt von Michael G. Esch.

Seit zwei Jahren sind die Ukrainer*innen mit den harten Realitäten des umfassenden Krieges konfrontiert und ertragen die alltäglichen Probleme von mehr als 700 von Unsicherheit und Verlust erfüllten Tagen. Russlands Krieg gegen die Ukraine hat Millionen von Ukrainer*innen aus ihren einstmals stabil und vorhersehbar scheinenden Leben gerissen. Langfristige Planung ist unmöglich geworden, da die wechselhafte Natur des Krieges jede Form von Routine durchkreuzt und massive Zerstörungen und Vertreibung verursacht. Mehr als 2,5 Millionen Ukrainer*innen haben ihr Zuhause verloren, etwa 5 Millionen sind innerhalb des Landes und weitere 6,5 Millionen ins Ausland geflüchtet – Menschen, deren Zuhause auf Erinnerungen reduziert und deren Leben für immer verändert ist.

Die Rolle digitaler Kunst in Zeiten des Krieges

Es kann nicht verwundern, dass die traurigen Ereignisse infolge der russischen Aggression und die ungeheuren Herausforderungen, denen sich Millionen Ukrainer*innen gegenübersehen, nicht nur Regierung und Zivilbevölkerung zum Widerstand mobilisiert haben. Sie haben auch die Kreativität ukrainischer Kulturschaffender beflügelt und tiefgreifende Transformationen der bestehenden Kultur- und Werteparadigmen angestoßen. Visuelle Kunst mit Bezug auf den Krieg, das heißt Fotografien, Illustrationen, Gemälde, Collagen, Street Art und digitale Kunst, zählten zu den ersten Reaktionen auf den Krieg. Mitunter waren die Kunstwerke kurzlebig und lediglich von momentaner Bedeutung, aber manche Werke haben intensive Reaktionen hervorgerufen, und zwar weit über die Grenzen der Ukraine hinaus. Vor allem in den ersten Tagen des Krieges zielten die inhaltlich größtenteils einschlägigen Reaktionen in der partizipativen digitalen Kultur häufig darauf ab, emotionale visuelle Inhalte zu vermitteln. Später boten sie allmählich differenziertere und feiner ausgearbeitete Interpretationen der Ereignisse, schufen Kriegsnarrative oder steuerten zu ihnen bei. Diese visuelle, auf allgemein zugänglichen digitalen Plattformen stattfindende Kunst diente nicht nur dazu, den Umfang des Krieges zu verdeutlichen, sondern bettete diesen in menschliche Dimensionen des Widerstands, der Resilienz oder der Tapferkeit ein und brachte gleichzeitig das unnennbare Leiden und die Schmerzen zum Ausdruck, die diese brutale Aggression hervorgerufen hat. In den Tausenden Bildern, die das Heldentum und den Widerstand der Ukrainer*innen zeigten, fand auch das Trauma seinen Ausdruck. Kunstwerke, die individuelle und kollektive Kriegserfahrungen repräsentieren, demonstrieren die in schockierender Weise veränderte Lebenswirklichkeit von Millionen von Ukrainer*innen und ermöglichen es, gefühlte Erfahrungen des Krieges mit anderen zu teilen.

Das Zuhause als visuelle Metapher des Kriegstraumas

Die visuelle Darstellung des eigenen Zuhauses taucht in der ukrainischen Kunst der Kriegszeit, die über soziale Medien verbreitet wird, immer wieder auf. Sie erscheint als machtvolles Symbol, das den markanten Unterschied zwischen dem Leben vor dem und im Krieg aufzeigt. Das Bild des verlorenen Zuhauses reflektiert die Emotionen von Millionen von Ukrainer*innen, die wegen des Krieges ihre Heimat verlassen mussten; es bringt eine tief empfundene Verbindung zum Ort, zum Land und zu den Menschen, die in ihm leben, zum Ausdruck. Das Bild des Hauses wird häufig mit den Farben der ukrainischen Nationalflagge oder anderen nationalen Symbolen kombiniert, um einen kollektiven Begriff von Einheit zu stärken und das Gefühl von Verlust und von Sehnsucht nach der Vergangenheit mitzuteilen (Abb. 1 und 2).

Abb. 2 © Lisa Yablonska (@yablonska.mykhailus)

Die räumliche Dimension des Krieges wird auch herangezogen, um die drastische Veränderung des Lebens der Ukrainer*innen und ihr Gefühl von Orientierungslosigkeit zu illustrieren. Die physische Zerstörung von Häusern und Gebäuden in vielen ukrainischen Städten und Dörfern infolge des Krieges taucht im digitalen Werk vieler Künstler*innen auf. Die Darstellungen transformierter städtischer Räume spiegeln wider, wie komplex der Einfluss des Krieges auf Städte ist, und verdeutlichen gleichzeitig die enge Verbindung zwischen Orten und Individuen. Bilder zerstörter Gebäude, die bis zum Krieg von friedlichen Bürger*innen bewohnt wurden, repräsentieren das Leiden aller Ukrainer*innen, indem sie das Leben vor und nach dem Krieg einander gegenüberstellen. Immer wieder verwenden ukrainische Künstler*innen erschütternde Bilder zerstörter Häuser, um die Gefühle gewöhnlicher Ukrainer*innen zu veranschaulichen, die einen solchen Verlust erlitten haben oder ihr Zuhause wegen der russischen Aggression verlassen mussten. Häufig wird das kollektive Selbstbild mit Darstellungen des Zuhauses oder Symbolen des Verlusts und des Leids verschmolzen, um eine tiefe Bindung an die Ukraine und die Tiefe des Traumas abzubilden (Abb. 3 und 4).

Abb. 3 © Olenka Zahorodnyk (@alekonkart)
Abb. 4 © Lisa Yablonska (@yablonska.mykhailus)

Diese Kunst in Zeiten des Krieges dient nicht nur dazu, ein kollektives Trauma zum Ausdruck zu bringen. Im digitalen Zeitalter wird sie zur Stimme derjenigen, die dieses Trauma erfahren haben, und bietet die Möglichkeit, den Schmerz des Verlusts zu teilen und andere, die sich Tausende Kilometer vom Kriegsgebiet entfernt aufhalten, diesen Schmerz über die Entfernung hinweg „erleben“ und verstehen zu lassen. So wird die visuelle Verbildlichung mit ihren vielen Bedeutungsebenen zu einer wichtigen Kraft der Repräsentation und Vermittlung von Erfahrungen in Zeiten des Krieges.


Alina Mozolevska ist Fellow am vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanzierten Ukraine Research Network@ZOiS.