ZOiS Spotlight 3/2024

Russophone Autor*innen zwei Jahre nach Russlands umfassender Invasion der Ukraine

Mehr denn je ist der Gebrauch des Russischen nicht nur eine politische, sondern auch eine Frage der Identität. Dies gilt auch für Autor*innen russischsprachiger Literatur, die ihr Verhältnis zur Sprache und ihre Verortung in der russophonen Kulturlandschaft zum Teil neu definieren müssen.

Dnipro, Ukraine, Dezember 2022: Arbeiter der Stadtverwaltung demontieren ein Denkmal des russischen Dichters Alexander Puschkin. © IMAGO / Ukrinform

Traditionell rechneten sowohl Leser*innen als auch Expert*innen jeden auf Russisch geschriebenen Text der Kategorie der russischen Literatur zu. In letzter Zeit haben Wissenschaftler*innen, die sich mit slawischen, osteuropäischen und eurasischen Kulturen beschäftigen und mit postkolonialen Studien vertraut sind begonnen, diesen Ansatz zu hinterfragen. Dabei verweisen sie auf die oft komplexen Identitätsdynamiken von Künstler*innen, die außerhalb der Russischen Föderation mit und in der russischen Sprache arbeiten. Die Forscherin Naomi Caffee führte in ihrer Doktorarbeit den Begriff der „Russophonie“ ein, um die „weit verbreiteten und variierenden Gebrauchsformen der russischen Sprache außerhalb der gewöhnlichen Grenzen von Ethnizität und Nation“ zu bezeichnen. Den besten Beleg für solch einen vielfältigen Gebrauch der russischen Sprache bieten die jüngsten Entwicklungen und Einstellungen im Bereich des literarischen Schreibens außerhalb der politischen Grenzen des heutigen Russlands.

Die russische Sprache in der Ukraine

Schon seit einiger Zeit wächst die Aufmerksamkeit für die Vielfalt russischsprachiger Kultur, die nicht mit russischer Kultur zu verwechseln ist. Russlands umfassender Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 stellte jedoch für russophone Autor*innen in und außerhalb der Ukraine einen Wendepunkt dar. Nach Februar 2022 wandten sich russophone oder zweisprachige ukrainische Autor*innen aus verschiedenen Generationen wie Wolodymyr Rafejenko und Ija Kiwa von der russischen Sprache ab und begannen komplett auf Ukrainisch zu schreiben. Andere schrieben weiterhin auf Russisch, verwendeten in manchen Fällen jedoch auch Ukrainisch als Arbeitssprache, so zum Beispiel Alexander Kabanow, dessen Versuche, sich mit seiner (russischen) Muttersprache auseinanderzusetzen, bereits mit einer 2017 veröffentlichten russischsprachigen Gedichtsammlung mit dem Titel In der Sprache des Feindes ihren Anfang nahmen.

Obwohl soziologische Untersuchungen gezeigt haben, dass die Bedeutung der ukrainischen Sprache angesichts der verheerenden Zerstörungen infolge der russischen Invasion rapide zugenommen hat, spielt die russische Sprache immer noch eine Rolle in der Kultur der Ukraine. Andrej Kurkow, der zu den international renommiertesten ukrainischen Stimmen zählt, schreibt weiterhin auf Russisch: für ihn bleibt Russisch seine innere Sprache, die Sprache seiner Träume und seine Arbeitssprache, auch wenn die jüngsten Ereignisse zu einem tiefen Bruch zwischen der russischen und der ukrainischen Realität geführt haben.

Im November 2023 veröffentlichten Polina Lawrowa, Stanislaw Belskij und Wladimir Schbankow Fliegeralarm, eine Anthologie russophoner Lyrik, die Texte von 25 ukrainischen Dichter*innen unterschiedlicher Hintergründe und Generationen enthält. Dabei rückt die neueste ukrainisch-russophone Literatur ihr „Ukrainischsein und ihre Unabhängigkeit vom heutigen Russland und seiner Kultur eindeutig in den Vordergrund.

Trends in Belarus und Kasachstan

Formal ist Belarus Mitaggressor im russischen Krieg gegen die Ukraine, allerdings erfährt der Krieg in Belarus eine deutlich weniger enthusiastische öffentliche Unterstützung als in Russland. Dass belarusische Autor*innen sich zugunsten des Belarusischen von der russischen Sprache abwenden, hängt indes vor allem mit dem Protest gegen das autoritäre Regime des eigenen Landes zusammen und stellt weniger eine Reaktion auf den Krieg in der Ukraine dar.

Obwohl es eine der zwei offiziellen Landessprachen ist, gilt Belarusisch seit der Unabhängigkeit des Landes 1991 als die Sprache der Opposition. Nach den Massenprotesten gegen die Wahlfälschungen 2020 begannen viele Demonstrant*innen intensiver über den Gebrauch von Sprache nachzudenken. Dieser Trend wurde durch Russlands Krieg in der Ukraine nur verstärkt. Insbesondere jene Belarus*innen, die nach 2020 gezwungen waren, ihr Land zu verlassen wandten sich häufig komplett von der russischen Sprache ab.

Allerdings schreiben einige Autor*innen auch weiterhin auf Russisch, darunter Sascha Filipenko. Filipenko hatte 15 Jahre in Russland gelebt, bevor er 2020 in die Schweiz ging, betrachtet sich jedoch bis heute als Belaruse. In einem Interview bestand er 2023 darauf, dass „die russische Sprache nicht ausschließlich [dem russischem Präsidenten Wladimir] Putin gehört“ – eine weitverbreitete Haltung unter russophonen Autor*innen, die aus anderen Ländern als Russland stammen. Ein weiteres Beispiel ist Dmitry Strozew, der immer noch auf Russisch schreibt, mit seinem in Berlin ansässigen Verlag hochroth Minsk jedoch Lyrik in belarusischer Sprache fördert. Seine Posts in den sozialen Medien verfasst er mittlerweile ebenfalls vorwiegend auf Belarusisch.

Wie in der Ukraine und Belarus gibt es auch in Kasachstan eine hohe Anzahl russischsprachiger Menschen und Diskussionen über den Gebrauch der Sprache sind seit 1991 omnipräsent. Obwohl das Land nicht unmittelbar vom Krieg gegen die Ukraine betroffen ist, hat die russische Aggression russophonen kasachstanischen Autor*innen einen starken Anstoß gegeben, über ihren Sprachgebrauch zu reflektieren.

Die Sprache zu wechseln ist nicht für alle von ihnen eine Option, da viele von ihnen nicht ausreichend Kasachisch sprechen. Deshalb besteht zunehmend die Tendenz unter Autor*innen, Russisch zu ihrer eigenen Sprache zu erklären und von Russland zu entkoppeln. Einer der aktivsten Vertreter*innen dieses Ansatzes ist Jurij Serebrjanskij, der die Gründung eines Kasachstanischen Instituts für die russische Sprache fordert, eine Idee, die auch von russophonen Autor*innen in der Ukraine schon lange vor 2022 ins Spiel gebracht wurde.

Kasachstanische Dichter*innen experimentieren viel mit Bilingualität; in manchen lyrischen Texten lassen diese Experimente eine neue hybride Sprache entstehen. In Anuar Dujsenbinows Gedicht Tyletsch verschmilzt zum Beispiel das kasachische Wort tyl mit dem russischen retsch. Beides bedeutet „Sprache“. Zu guter Letzt nehmen die Aktivitäten im Übersetzungsbereich zu. Immer mehr literarische Texte werden sowohl auf Russisch als auch auf Kasachisch veröffentlicht und somit gleichzeitig in beiden, ansonsten häufig voneinander getrennten Sprachräumen Kasachstans platziert.

Ein Archipel russischsprachiger Kulturen

Russlands militärische Aggression gegen die Ukraine ist die Kulmination einer lange bestehenden Ausbeutung im kulturellen Bereich, die sich nicht nur in der Ukraine, sondern im gesamten postsowjetischen Raum und darüber hinaus herausgebildet hat. Heute versuchen russophone Autor*innen einen Umgang mit jenem von Russland vorangetriebenen Krieg der Worte zu finden, der auf dem Anspruch des Landes beruht, ein Monopol über die russische Sprache und damit auch über die russischsprachigen Menschen zu besitzen.

Während sich als Reaktion auf den Krieg momentan eine allmähliche, aber stetige Abkehr vom Gebrauch der russischen Sprache vollzieht, werden zukünftig womöglich immer mehr russophone Intellektuelle auf der ganzen Welt das Bedürfnis zum Ausdruck bringen, die russische Sprache vom russischen Staat zu entkoppeln. Langfristig könnte die Gründung weiterer Publikationskanäle und Diskussionsplattformen außerhalb Russlands russophonen Schriftsteller*innen dabei helfen, „[ihre] russische Sprache nicht Putin zu überlassen“, um es in Worten Kabanows auszudrücken. Damit könnte der Weg für das geebnet werden, was die Professorin für russische Literatur Maria Rubins als gigantisches „Archipel“ russophoner Kulturen außerhalb Russlands bezeichnet hat.


Alessandro Achilli ist Senior Assistant Professor für Slawistik an der Universität Cagliari, Italien.

Nina Frieß ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am ZOiS.

Marco Puleri ist Senior Assistant Professor am Institut für Politik- und Sozialwissenschaften an der Universität Bologna, Italien.