ZOiS Spotlight 8/2017

Russlands Jugend in Aufruhr?

Von Félix Krawatzek 03.05.2017
Ein junger Demonstrant schwenkt die russische Flagge bei Anti-Korruptionsprotesten in St. Petersburg im März 2017. Till Rimmele/n-ost

Die Proteste in Russland im März 2017 führten in vielen westlichen Medien zu begeisternden Kommentaren über die demokratische Wiederbelebung der Jugend des Landes. Etwa 60.000 Menschen gingen in mehr als 80 Städten auf die Straße und demonstrierten gegen die weit verbreitete Korruption, die der Oppositionspolitiker Alexei Nawalny und sein Team aufgedeckt hatten. Die umfangreichsten Proteste seit 2012 erreichten auch solche Städte, die bislang wenig bekannt für oppositionellen Aktivismus waren, unter ihnen Wladikawkas und Wladiwostok. Viele der Demonstrant*innen kennen keine anderen Präsidenten als Wladimir Putin und Dmitri Medwedew. Sie sind eine neue Generation P, die sich nur noch schwach an das Chaos der 90er Jahre erinnert, das Wiktor Pelewin in seinem Kultroman so lebendig beschreibt.

Für manchen russischen Heranwachsenden kommen diese Ereignisse einer politischen Taufe gleich. Alexei Nawalny und der linksgerichtete Oppositionelle Sergei Udalzow bemühen sich seit Langem um die Jugend. Mit ihrer Anti-Kreml-Haltung haben sie zur Sozialisierung der Protestierenden, die das Politik- und Bildungssystem unter Putin in Frage stellen, beigetragen. Für die russische Öffentlichkeit ist die Jugend wieder als deutlich sichtbarer politischer Akteur auf die Bühne getreten und lässt damit Zweifel am Bild von der apolitischen und wirtschaftlich opportunistischen Generation aufkommen.

Die jüngsten Proteste sind Teil eines zunehmenden sozialen Aktivismus in ganz Russland. Auch wenn sie nicht dasselbe Ausmaß wie die Demonstrationen im Jahr 2005 oder in den Jahren 2011/12 erreichen, sind sie doch ein Zeichen für die mobilisierenden Kräfte Nawalnys. Er und sein Team schaffen es, weite Teile der Opposition für sich einzunehmen; das russische Meinungsforschungsinstitut Lewada schätzt die Zahl der Anhänger auf zwei bis drei Millionen. Ein Faktor, der Nawalnys Einfluss auf die Bevölkerung begrenzt, ist die übermäßig negative Berichterstattung staatlich kontrollierter Medien. Jedoch greifen junge Menschen immer weniger auf diese Medien zurück und informieren sich zunehmend auch über soziale Medien. Dieses veränderte Informationsverhalten ist zweifelsohne eine Herausforderung für das staatliche Monopol auf die Definition dessen, was bei jungen Russ*innen als wahr erachtet wird.

Wie passt diese kritische, ja, sogar wütende Jugend in das gängige Bild junger Russ*innen? Die Ergebnisse einer Umfrage unter 17- bis 34-Jährigen, die die Public Opinion Foundation (FOM) im März 2017 durchgeführt hat, geben ein widersprüchliches Bild ab. Der Befragung zufolge befürworten 28 Prozent die Verstaatlichung von Schlüsselunternehmen und unterstützen in irgendeiner Art sozialistische Ansichten. Die junge Generation, so scheint es, lehnt den Ego-Kapitalismus der 1990er ab, und nur etwa 20 Prozent bevorzugen ein liberales Wirtschaftsmodell.

Was die politische Mobilisierung betrifft, ähnelt die russische Jugend im Durchschnitt der älteren Generation. Etwa 85 Prozent der 17- bis 34-Jährigen gaben an, noch nie an einer Demonstration teilgenommen zu haben, und etwa 62 Prozent haben das auch in Zukunft nicht vor. Bemerkenswert ist, dass etwa 70 Prozent der Meinung sind, ihr Land bewege sich in die richtige Richtung. Im Durchschnitt ist die Unterstützung für den aktuellen politischen Kurs unter jungen Menschen also sogar höher als in der gesamten russischen Bevölkerung.

Trotz des Wunsches nach Erhaltung des Status quo, bildeten junge Russ*innen einen bedeutenden Teil der kürzlich Protestierenden. Ein Blick darauf, wie sich russische Jugendbewegungen über die Jahre entwickelt haben, könnte die Diskrepanz dieser Trends erklären. Der sowjetische Staat hatte die Jugend von Beginn an sehr genau im Auge behalten und versucht, die jüngere Generation aktiv in das institutionelle System einzubinden. Parteimitglieder betrachteten Aktivitäten außerhalb der offiziellen Jugendbewegung mit Misstrauen – von den stiljagi („Die mit Stil") gegen Ende der stalinistischen Ära bis zu den metallisty („Heavy-Metal-Fans“) und neformaly („Informelle Gruppe“) während der Perestroika – und kritisierten ihr Verhalten als nonkonformistisch. Gegen Ende der Sowjetzeit zeigten sich viele junge Menschen jedoch enttäuscht von der Lage im Land, ein Zustand, den Juris Podnieks in seinem Film „Ist es leicht, jung zu sein?“ eindrücklich beschreibt. In der unmittelbaren post-sowjetischen Übergangsperiode verschwand die Jugend weitgehend von der politischen Agenda. Ihre Bedeutung wurde von den russischen Machthabern erst mit den Farbrevolutionen nach 2004 wiederentdeckt. 2005 gründete der Kreml die staatlich finanzierte Jugendorganisation Naschi („Die Unseren“), die ihre Mitglieder zu Unterstützer*innen des Regimes erzog. Offensichtlich wussten die Machthaber, wie sie mit der Jugend umgehen mussten: Der Pro-Kreml-Bewegung gelang es, aufkommende oppositionelle Jugendaktivitäten im Keim zu ersticken.

In jüngster Zeit betrachtete die politische Elite die Aufgabe der Jugendmobilisierung jedoch als vollbracht. Naschi verschwand, und seine kleineren Nachfolgebewegungen hatten keinen Erfolg bei jungen Russ*innen. Bis heute haben die Machthaber keine schlüssige Botschaft formuliert, die über „patriotische Erziehung“ hinausgeht. Konnten Nawalnys sarkastische Aktionen – etwa Turnschuhe um den Hals der Protestierenden als Zeichen des Spotts gegenüber der Vorliebe Medwedew für teure Sneaker, oder Quietscheenten als Symbol für das Häuschen, das der Ministerpräsident eigens für die Enten auf seinem Luxusanwesen bauen ließ – junge Menschen anspornen, geschah das nicht nur wegen der Sorge um die Korruption im Lande, sondern auch, weil es nichts anderes gab, was sie hätte anspornen können. Bisher hat der im Zuge der Krim-Annexion 2014 zur Schau gestellte Nationalismus es nicht geschafft, eine Jugendbewegung wiederzubeleben.

In welche Richtung wird die neue Generation P steuern? Bislang hat sich die junge Generation nicht umfassend im Widerstand gegen den Status quo erhoben. Vielmehr bleiben junge Russ*innen geteilter Ansicht, was den politischen Kurs angeht, wie jüngste Umfragen zeigen. Trotzdem gibt es Anzeichen dafür, dass es die Machthaber künftig schwerer haben dürften, die momentanen Gegebenheiten zu erhalten, falls ein beträchtlicher Teil der Jugend weiterhin auf die Straße geht.


Félix Krawatzek ist Politikwissenschaftler und wissenschaftlicher Mitarbeiter am ZOiS.