ZOiS Spotlight 3/2022

Junge Menschen in Russland: Zwischen Patriotismus und informellem Engagement

Von Nadya Nartova 26.01.2022
Junger Mann in Russland bei Nachbarschaftshilfe während der Coronapandemie. IMAGO / ITAR-TASS

Aus dem Englischen übersetzt von Armin Wolking.

Wer ist ein*e Staatsbürger*in? Welche Rechte und Pflichten haben Staatsbürger*innen? Wie können Menschen ihre staatsbürgerliche Identität und Solidarität zum Ausdruck bringen? Diese Fragen spielen für moderne Staaten eine wichtige Rolle. Auch in Russland, wo die Regeln und Formen staatsbürgerlicher Partizipation in den letzten drei Jahrzehnten stark durch den Staat definiert wurden, und kulturelle Unterschiede zu Brüchen zwischen den Generationen führen, suchen junge Menschen Antworten auf solche Fragen.

Staat, Zivilgesellschaft und Jugend

Seit der russische Präsident Wladimir Putin Anfang der 2000er-Jahre an die Macht kam, hat sich in Russland ein besonderes politisches Regime herausgebildet, das in den Worten des Politikwissenschaftlers Wladimir Gelman als „personalistischer Wahlautoritarismus“ bezeichnet werden kann. Es zeichnet sich durch eine unbeschränkte Ausweitung staatlicher Kontrolle aus, während gleichzeitig demokratische Prozesse imitiert werden. Forscher*innen beschreiben die Aussichten für die Entwicklung der russischen Zivilgesellschaft und die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft im Allgemeinen als „düster und unheilvoll.“ 

Insbesondere seit den 2010er-Jahren wurde der Zugang zum öffentlichen Raum für nichtstaatliche Initiativen erheblich eingeschränkt. Gesetze, die die Organisation und den Ablauf öffentlicher Massenveranstaltungen wie Proteste oder direkte Aktionen regulieren, wurden deutlich verschärft. Auch die Regeln, denen NGOs unterworfen sind, haben sich geändert: Die Anzahl an Organisationen, Medien und Individuen, die als „ausländische Agenten“ registriert sind, wächst und Menschenrechtsorganisationen werden von staatlicher Seite aufgelöst.

Ziel der russischen Jugendpolitik ist es, junge Menschen zu einer militarisierten Form des Patriotismus zu erziehen. Es wird von ihnen erwartet, auf die militärische Vergangenheit ihres Landes und dessen Bereitschaft, die Heimat physisch und moralisch zu verteidigen, stolz zu sein. Außerdem sollen sie für sogenannte traditionelle Werte einstehen. Nur zwei Formen staatsbürgerlichen Handelns sind erwünscht: einerseits das Engagement innerhalb formalisierter politischer Institutionen und andererseits die Teilnahme an staatlich unterstützten Aktivitäten. Das staatsbürgerliche Engagement junger Menschen soll aus Sicht des Staates vor allem Patriotismus und Loyalität zum Ausdruck bringen.

Formelle und informelle politische Partizipation junger Menschen

Ähnlich wie in anderen europäischen Ländern ist jedoch auch in Russland die Beteiligung junger Menschen an institutionalisierten Formen der Politik verglichen mit früheren Generationen rückläufig. Nur etwa 30 Prozent aller jungen Menschen nahmen an den Wahlen zur Staatsduma 2016 teil, und nur 3,5 Prozent von ihnen sind Mitglied einer politischen Partei. Etwa 11 Prozent geben an, den offiziellen politischen Institutionen zu vertrauen, während fast 41 Prozent kein Vertrauen in sie besitzen. Siebenundfünfzig Prozent der jungen Leute haben kein Interesse an Politik und lediglich 19 Prozent sagen, dass sie sich ein wenig dafür interessieren.

Allerdings nutzen junge Menschen zunehmend informelle Möglichkeiten, sich politisch zu engagieren, und bringen ihre gesellschaftlichen Vorstellungen auf anderem Weg als durch Wahlen zum Ausdruck. Zum Beispiel haben nach Angaben des Lewada-Zentrums 22 Prozent der jungen Russ*innen schon einmal politische Petitionen oder Appelle unterzeichnet, 11 Prozent an politischen Aktionen oder Initiativen im Internet teilgenommen, und 9 Prozent aus politischen oder ökologischen Gründe auf den Kauf bestimmter Produkte verzichtet. Eine 2020 durchgeführte Umfrage der Higher School of Economics zeigt zudem, dass viele junge Menschen ehrenamtlich aktiv sind: Unter den 24- bis 34-Jährigen ist der Anteil derjenigen, die sich ehrenamtlich engagieren, höher als innerhalb der älteren erwachsenen Bevölkerung Russlands insgesamt.

Staatsbürgerliches Engagement durch alltägliche Fürsorge

Forschungen des Zentrums für Jugendstudien der Higher School of Economics in Sankt Petersburg haben gezeigt, dass viele junge Menschen das staatlich verordnete Verständnis von Patriotismus kritisch sehen und aktiv nach Wegen suchen, ihre eigenen Vorstellungen von staatsbürgerlichem Engagement zu verwirklichen. Obwohl ihnen die traditionellen Möglichkeiten zivilgesellschaftlicher Teilhabe ineffektiv und oftmals sogar gefährlich erscheinen, haben sie das Ideal eines aktiven staatsbürgerlichen Engagements nicht aufgegeben. Sie konzentrieren sich stattdessen auf greifbarere Alltagsaktivitäten, bei denen sie mit den ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen etwas beeinflussen oder Veränderungen bewirken können. Zum Beispiel gründen und gestalten junge Menschen nachbarschaftliche, kulturelle und urbane Vereinigungen mit, bieten ausgegrenzten Gruppen ihre Hilfe an, nehmen an Umweltaktionen teil und unterstützen einander und die Menschen in ihrem Umfeld.

Alltägliche Fürsorgearbeiten wie diese geben jungen Menschen die Möglichkeit, abseits der formalen politischen Sphäre staatsbürgerlich tätig zu werden und sich dabei über das eigene Privatleben hinaus gesellschaftlich zu engagieren. Junge Russ*innen legen Wert darauf, dass staatsbürgerliches Handeln nicht auf das eigene individuelle Leben beschränkt bleiben darf, sondern bedeutet, andere Menschen aktiv zu unterstützen und an gesellschaftlichen Problemen zu arbeiten. Darin unterscheidet sich die jüngere Generation stark von ihren Eltern. Deren Verständnis ihrer eigenen staatsbürgerlichen Rolle ist vor allem dadurch geprägt, dass sich politische Partizipation zunehmend auf private Pflichten wie die Arbeit oder das Zahlen von Steuern verengt – ein Rückzug ins Private, der im moralischen und ethischen Anspruch, „ein guter Mensch zu sein“, zum Ausdruck kommt.

Wie ihre Altersgenoss*innen im Westen erproben junge Russ*innen neue Formen staatsbürgerlichen Engagements, in deren Mittelpunkt alltägliche Aktivitäten stehen. Allerdings gibt es außerhalb informeller Gruppen oder des privaten Alltags auch keine anderen Räume, in denen sie etwas bewirken könnten, da die öffentliche Sphäre vollständig durch den Staat kontrolliert wird. Soziales Engagement ermöglicht es jungen Menschen, ihre Kenntnisse und Fähigkeiten weiterzuentwickeln, in größerem Maße am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und mehr Handlungsfähigkeit zu erlangen. Gleichzeitig verhindert der staatliche Druck auf NGOs und öffentliche Vereinigungen in Russland, dass junge Menschen mit ihren Gruppen im öffentlichen Raum agieren können. Insgesamt lässt sich festhalten, dass unter jungen Menschen eine neue Art von zivilgesellschaftlicher Wirklichkeit entsteht, die größtenteils parallel zu staatlichen Strukturen verläuft. Sie ist ein Versuch, vor dem Staat zu fliehen und ihm gleichzeitig Widerstand zu leisten.


Nadya Nartova ist Senior Research Fellow am Zentrum für Jugendstudien der Higher School of Economics in Sankt Petersburg, Russland.