ZOiS Spotlight 16/2023

Flexible Solidarität: Polnische und ungarische Reaktionen auf Flucht und Vertreibung

Nach Russlands Invasion 2022 wurden Geflüchtete aus der Ukraine in Polen und Ungarn mit erstaunlich offenen Armen empfangen. Während beide Regierungen auf eine ähnlich feindselige Weise auf die Fluchtbewegungen 2015 reagiert hatten, wiesen ihre Krisenreaktionen 2022 einige wesentliche Unterschiede auf.

Notunterkunft für Geflüchtete in der ungarischen Grenzstadt Záhony im März 2022. IMAGO / agefotostock

Aus dem Englischen übersetzt von Armin Wolking.

Es wurde viel über den Mangel an Solidarität geschrieben, den Polen und Ungarn während der Flüchtlingskrise 2015 zeigten. Obwohl sie nicht auf gleiche Weise vom Zustrom Geflüchteter betroffen waren, reagierten die rechten Regierungen beider Länder ähnlich feindselig auf die Ankunft der Geflüchteten. Damals sprachen die Regierungen sich für etwas aus, das sie flexible Solidarität nannten. Sieben Jahre später stellte sich die Situation vollkommen anders dar: Was 2015 noch unmöglich erschien, wurde 2022 Wirklichkeit. Angesichts der größten Fluchtwelle in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg empfingen die polnische und ungarische Regierung die vor dem Krieg in der Ukraine fliehenden Menschen mit offenen Armen. Sie setzten Regelungen im Rahmen der EU-Richtlinie über vorübergehenden Schutz (Temporary Protection, TP) in Kraft und öffneten ihre Grenzen und Sozialsysteme für die Ukrainer*innen. Trotz dieser Ähnlichkeiten wiesen die Reaktionen auf der lokalen Ebene in Polen und Ungarn zahlreiche Unterschiede auf.

Die Nachwirkungen von 2015

Durch die Krise von 2015 rückte das Thema Flucht in Polen und Ungarn zum ersten Mal seit 1989 an die Spitze der öffentlichen und politischen Agenda und wurde genutzt, um Wähler*innen zu mobilisieren. Die Maßnahmen der Regierungen spiegelten den öffentlichen und politischen Diskurs wider. Beide Länder lehnten es ab, sich an der Umverteilung von Geflüchteten zu beteiligen, führten an ihren Grenzen immer mehr illegale Push-Backs durch, strichen ihren Asylsystemen die finanziellen Mittel und errichteten Befestigungsanlagen an ihren Außengrenzen. Außerdem führten beide Regierungen eine Reihe von illiberalen Reformen durch und verstärkten die Zentralisierung ihrer Regierungssysteme.

Allerdings wurde der offizielle Antiflüchtlingsdiskurs der polnischen Regierung gleichzeitig von einer bahnbrechenden Liberalisierung der Arbeitsmigrationspolitik begleitet, was zu einem rapiden Wachstum der Einwander*innenzahlen im Land führte. Während die Zahl der Einwander*innen in Polen 2011 noch bei etwa 100.000 Menschen lag, überstieg sie 2019 zwei Millionen. Ukrainer*innen machten den überwiegenden Teil der wachsenden Migrant*innenbevölkerung aus. Unter ihnen waren auch Menschen, die vor dem Krieg im Donbas geflohen waren, sich aber anstelle des langwierigen und unsicheren Asylverfahrens für den vereinfachten und gesicherten legalen Einwanderungsprozess entschieden. Da es keine von der Regierung entwickelte Infrastruktur zur Integration von Einwander*innen gab, sprangen stattdessen die polnischen Städte ein. Die Bürgermeister*innen der größten Metropolen haben seitdem Strategien für die Integration von Einwander*innen entwickelt und die horizontale Zusammenarbeit vertieft, um ein besseres gesellschaftliches Klima für Einwander*innen zu schaffen.

Währenddessen hatte Ungarn 2015 mit dem höchsten Zustrom an Geflüchteten in seiner Geschichte zu tun, der damals höchsten Anzahl pro Kopf in der gesamten EU. Mehr als 177.000 Menschen erhoben Anspruch auf Asyl in Ungarn, was einer Anzahl von 1.800 Geflüchteten pro 100.000 Bürger*innen entsprach. Präsident Viktor Orbán reagierte mit verstärkter Grenzsicherung und politischer Zentralisierung. Eine Handvoll von oppositionsgeführten ungarischen Städten verfügte nur noch über begrenzte Verwaltungs- und Haushaltskapazitäten. Durch die ungarische „Stoppt Soros“-Kampagne wurden Bürger*innen zunehmend entmutigt, aktiv zu werden.

In Polen haben Graswurzelbewegungen zur Unterstützung von Geflüchteten ein Wachstum erlebt, obwohl die Regierung den Zugang von NGOs zu EU-Geldern eingeschränkt hat. Dieses Wachstum beschleunigte sich während der Krise an der Polnisch-Belarussischen Grenze. Erneut löste die feindselige Push-Back-Politik der Zentralregierung Maßnahmen lokaler Behörden und zivilgesellschaftlichen Aktivismus zur Unterstützung Geflüchteter aus. Diese zivilgesellschaftlichen Netzwerke und Stadtverwaltungen prägten bald darauf wesentlich die Reaktion Polens auf die Krise 2022.

Unterstützungswürdige Migrant*innen, unterstützungswürdige Organisationen

Die unfreiwillige Migration der 2022 vor dem Krieg in der Ukraine geflohenen Menschen spielte sich in Polen und Ungarn vor dem Hintergrund einer flüchtlingsfeindlichen Regierungspolitik, gespaltenen Lokalverwaltungen und polarisierten Gesellschaften ab. In Ungarn hatte die „Null-Einwanderungs“-Politik zu jenem Zeitpunkt ihren Höhepunkt erreicht. Nichtsdestotrotz wurden die Geflüchteten aus der Ukraine mit überraschend offenen Armen empfangen. Als der Zustrom von Geflüchteten nach Polen seinen Höhepunkt erreichte, wuchs die Bevölkerung in nur wenigen Monaten um fast fünf Prozent. Durch die von der Regierung gemäß der Richtlinie über vorübergehenden Schutz gesetzten Rahmenbedingungen wurde ein schneller und einfacher Weg geschaffen, den Aufenthalt der Flüchtlinge zu legalisieren und ihnen Zugang zum Sozialsystem zu verschaffen. Vor Ort waren es immer noch NGOs und lokale Regierungen, die an vorderster Front Hilfe leisteten. Sie ergriffen verschiedene ad hoc-Maßnahmen, um die unmittelbaren humanitären Bedürfnisse der Migrant*innen zu erfüllen, einschließlich der Unterstützung beim Umzug von der polnisch-ukrainischen Grenze, der Einrichtung von Informationsstellen, der Versorgung mit temporärem Wohnraum und der Ausrichtung sozialer Dienste an den Bedürfnissen der Migrant*innen.

Nur wenige Tage nach Beginn der Krise begannen ungarische NGOs, die in den Bereichen der Migration und humanitären Hilfe tätig sind, gemeinsam mit einer über die sozialen Medien organisierten Graswurzelbewegung, Unterstützung für Geflüchtete zu organisieren. Darüber hinaus startete die Fidesz-Regierung die Kampagne „Brücke für Transkarpatien“, die zum Ziel hatte, die fast 200.000 ethnischen Ungar*innen, die in der Ukraine leben, zu unterstützen. Dies geschah vor dem Hintergrund einer umfassenderen Politik gegenüber der Diaspora, die Menschen aus Transkarpatien mit ungarischer Herkunft die doppelte Staatsbürgerschaft anbietet. Außerdem wählte die Regierung eine Reihe von vermeintlich unterstützungswürdigen religiösen Organisationen aus, die ad hoc-Programme entwickeln sollten, um den Bedürfnissen der Geflüchteten gerecht zu werden. Einige dieser Organisationen hatten 2015 offen die flüchtlingsfeindlichen Narrative der Regierung und ihr Vorgehen gegen Geflüchtete unterstützt.

Dass sich Polens und Ungarns Feindseligkeit gegenüber Geflüchteten in eine Willkommenshaltung verwandelt hat, wird hauptsächlich der symbolischen Bedrohung durch die Invasion in der Ukraine, einem kollektiven Bewusstsein und der ukrainischen Ethnizität zugeschrieben. Allerdings ist race* dasjenige, was die meisten der ethnisch eindeutig ukrainischen Menschen, die 2022 vor dem Krieg flohen, von Asylbewerber*innen of Colour an der polnisch-belarussischen Grenze, afrikanischen Studierenden oder ukrainischen Roma unterscheidet, die Schwierigkeiten haben, vergleichbare Hilfe zu erhalten oder auch nur fundamentale Menschenrechte gewährt zu bekommen. Folglich kam es im politischen und medialen Diskurs in Polen und Ungarn zu einer Verschiebung der Narrative, bei wem es sich um unterstützungswürdige Geflüchtete handelt. In Polen werden sie als „Kriegsflüchtlinge“, in Ungarn als „echte“ und „vertraute“ Geflüchtete bezeichnet.

„Do-it-yourself”-, privatisierte und dezentralisierte Hilfe

Obwohl durch die Umsetzung der Richtlinie über vorübergehenden Schutz aufnahmefreundliche Rahmenbedingungen geschaffen wurden, hätten die lokalen Verwaltungen und NGOs in Polen eine systematischere und umfassendere Unterstützung seitens der Regierung gebraucht. Es mangelte nicht nur an Leitlinien der Zentralregierung, wie den Ukrainer*innen ein Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen ermöglicht werden kann, sondern vor allem an einer ausreichenden staatlichen Finanzierung. Einige der Verantwortlichen in den Verwaltungen fühlten sich von der Regierung allein gelassen und sprachen von einer „Do-it-yourself“-Kultur, welche Erwartungen erzeugt hätte, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Internationale NGOs und zwischenstaatliche Organisationen schlossen rasch die Finanzierungslücke. Ein Jahr nach Eskalation des Krieges waren 83 Partnerorganisationen, inklusive sechs UN-Einrichtungen, 24 internationalen und 48 nationalen NGOs, der Internationalen Föderation der Rotkreuz- und Rothalbmond-Gesellschaften und des Roten Kreuzes sowie vier religiösen Organisationen, im Rahmen des UNHCR-Hilfsplans für Polen tätig. Über dieses Netzwerk erhielten zahlreiche spezialisierte und neugegründete lokale Flüchtlings- und humanitäre Hilfsorganisationen dringend benötigte Gelder, um ad hoc-Programme zur Versorgung von Geflüchteten aufzusetzen. Allerdings sorgte die Vielzahl an unterschiedlichen Akteuren für Koordinationsschwierigkeiten. Außerdem blieb fraglich, ob derartige Programme auch nach einem Ende der Finanzierung durch internationale NGOs nachhaltig Bestand haben könnten. Schlussendlich verstärkte und beschleunigte die Ausrichtung auf soziale Organisationen die Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen. Auch in Ungarn wurden Finanzierungslücken durch internationale Unterstützung geschlossen. Der Hilfsplan der UNHCR für Ungarn umfasste ähnlich wie in Polen eine hohe Anzahl an Stakeholdern (37), allerdings war der Privatisierungsprozess aufgrund der stärker zentralisierten Flüchtlingspolitik in Ungarn nicht so stark ausgeprägt wie in Polen.

Ähnlicher Prozess, unterschiedliche Maßstäbe

Obwohl die Regierungen von Polen und Ungarn aufgrund jahrelanger illiberaler Reformen und fehlender staatlicher Infrastruktur zur Integration von Migrant*innen ähnlich schlecht auf die Krise von 2022 vorbereitet waren, gab es doch erhebliche Unterschiede zwischen den beiden Ländern. Während die lokalen Behörden und die Zivilgesellschaft in Polen einen gewissen Grad an administrativer und finanzieller Unabhängigkeit bewahren konnten, wurde die Autonomie ungarischer Gemeinden und der Zivilgesellschaft systematisch beschnitten.

Die Krise 2022 bot eine Gelegenheit, die Rechte von Geflüchteten zu stärken. Die größten Kommunen Polens konnten sich diese Gelegenheit erfolgreich zunutze machen, indem sie die Entwicklung lokaler Migrationsstrategien beschleunigten und öffentliche Dienstleistungen an die Bedürfnisse von Menschen anpassten, die kein Polnisch sprechen. In Ungarn verhinderte die begrenzte Autonomie der Kommunen, dass ähnliche Prozesse stattfinden konnten, und das trotz einer umfangreichen zivilgesellschaftlichen Mobilisierung.


Karolina Łukasiewicz ist Marie Sklodowska-Curie Fellow im Centre of Migration Research an der Universität Warschau.

Kamil Matuszczyk ist Sozialwissenschaftler und forscht ebenfalls im Centre of Migration Research an der Universität Warschau