ZOiS Spotlight 1/2018

Dekonstruktion der Justiz in Polen?

Von Tina de Vries 17.01.2018
Eine junge Frau demonstriert in Warschau gegen die Justizreform in Polen. Adam Lach/Napo Images

Am 20.12.2017 leitete die Europäische Kommission wegen der sogenannten Justizreform ein Rechtsstaatsverfahren gegen Polen nach Art. 7 EUV sowie ein Vertragsverletzungsverfahren vor dem EuGH ein. Auch die Venedig-Kommission hat in insgesamt fünf Gutachten eine Bedrohung der Rechtsstaatlichkeit in Polen festgestellt. Im August 2017 trat das „Gesetz über das System der ordentlichen Gerichte“ (GSOG) in Kraft und im Dezember 2017 wurden die „Neuregelung des Gesetzes über das Oberste Gericht (GOG)“ sowie das „Änderungsgesetz zum Landesjustizrat (ÄGLJR)“ verabschiedet. Die drei Gesetzesprojekte, die im Sommer eingereicht wurden, stammten aus der Feder des Justizministers. Das GOG und das ÄGLJR hatte Polens Präsident, Andrzej Duda, im ersten Anlauf im Juli 2017 nach Massenprotesten der Zivilgesellschaft mit einem Veto belegt. Im September 2017 legte der Präsident eigene Projekte in diesen Gesetzesmaterien vor, die im Dezember 2017 angenommen wurden.

Schwächung der Selbstverwaltung der Justiz

Das Gesetz über das System der ordentlichen Gerichte enthält Regelungen über die Wahl der Gerichtspräsident*innen an den ordentlichen Gerichten, den Verwaltungs- und Militärgerichten. Bislang war für die Ernennung, die nur formal durch den Justizminister erfolgte, eine Mitwirkung sowohl der Selbstverwaltung der Justiz als auch des LJR notwendig. Nun ist in keinem Fall eine Stellungnahme der Selbstverwaltung erforderlich und die Stellungnahme des LJR kann übergangen werden. Der Justizminister bestimmt zudem die innere Organisation der Gerichte. Dies betrifft u.a. die Grundsätze der Zuteilung der einzelnen Fälle durch Auslosung der Zusammenstellung der Spruchkörper sowie der Sachen, die nach dem Dienstplan zugeteilt werden. Mit Inkrafttreten des Gesetzes wurden Richterinnen, die das 60. Lebensjahr vollendet haben und Richter, die das 65. Lebensjahr vollendet haben, automatisch in den Ruhestand versetzt. Auf Antrag kann der Justizminister nach freiem Ermessen eine Verlängerung gewähren. Dies wird als eine Verletzung der Unabsetzbarkeit der Richter*innen und der Gewaltenteilung bewertet. Zudem können sämtliche Gerichtspräsident*innen vom Justizminister innerhalb von sechs Monaten abberufen werden. Der Justizminister hat von dieser Ermächtigung bereits Gebrauch gemacht.

Regierungseinfluss auf Landesjustizrat wird möglich

Der Landesjustizrat ist ein Gremium, das während der Transformationsphase zur Stärkung der Unabhängigkeit der Justiz gebildet wurde. Er schützt gemäß Art. 186 Verfassung (Verf) die Unabhängigkeit der Gerichte und der Richter*innen und nach Art. 179 Verf werden die Richter vom Präsidenten der Republik Polen auf Vorschlag des LJR berufen. Der Landesjustizrat besteht aus 25 Mitgliedern, die der Exekutive, der Judikative und der Legislative angehören, wobei 15 Mitglieder Richter*innen sind (Art. 187 Verf), die bisher durch Gremien der Selbstverwaltung der Justiz gewählt wurden. Nunmehr erfolgt die Wahl dieser Richter-Mitglieder durch eine Kammer des polnischen Parlaments, den Sejm. Das Vorschlagsrecht ihrer Wahl haben entweder 2000 Bürger*innen oder 25 Richter*innen. Aus den beim Sejm eingegangenen Vorschlägen wählt dann jede Sejmfraktion neun Kandidat*innen aus. Anschließend wird durch eine Sejmkommission eine Liste von 15 Kandidat*innen erstellt, wobei zumindest ein*e Kandidat*in jeder Fraktion berücksichtigt sein muss. Der Sejm wählt im ersten Wahlgang mit einer Dreifünftelmehrheit bei Anwesenheit von wenigstens der Hälfte der Abgeordneten diese 15 Richter*innen in den LJR. Kommt keine solche Stimmenmehrheit zustande, reicht im zweiten Wahlgang die absolute Mehrheit bei gleichem Anwesenheitserfordernis. Hierdurch wird der LJR dem Einfluss der jeweils regierenden Partei ausgesetzt. Eine Übergangsregelung bestimmt, dass das Mandat der Mitglieder des alten LJR einen Tag vor Beginn der Amtsperiode des neugewählten Rats endet, nicht länger jedoch als 90 Tage seit dem Inkrafttreten des Änderungsgesetzes. Das bedeutet konkret, dass der LJR im Jahr 2018 insgesamt aufgelöst wird und maßgeblich durch die momentane Regierungspartei bestimmt werden könnte. Mittlerweile wurde bereits das Wahlverfahren eingeleitet.

Eingriffe in die Unabsetzbarkeit von Richter*innen

Das Oberste Gericht setzte sich nach der alten Regelung aus einer Kammer für Zivil-, einer für Strafsachen, einer Kammer für Arbeits-, Sozialversicherungs- und öffentlichen Sachen sowie einer Militärkammer zusammen. In der Neuregelung wurden die Zivil- und Strafkammer beibehalten, die Militärkammer aber aufgelöst. Die öffentlichen Sachen (zu denen unter anderem Wahlprüfungsverfahren gehören) wurden aus der Arbeits- und Sozialversicherungskammer entfernt und in eine neu zu schaffende Kammer für die Außerordentliche Kontrolle und öffentliche Sachen eingebracht. Durch die Neuregelung wird ausdrücklich angeordnet, dass die Arbeits-und Sozialversicherungskammer aufgelöst und neu besetzt werden muss. Zudem wurde eine neue Disziplinarkammer gegründet. Weiter wurde die Mindestzahl der Richter*innen am OG auf 120 festgelegt. Im neuen Gesetz ist ausdrücklich bestimmt, dass der bisherige Erste Präsident des OG diese Funktion nur bis zum Eintritt in den Ruhestand ausüben kann. Die neugeschaffene Disziplinarkammer mit zwei Abteilungen ist organisatorisch unabhängiger als die übrigen Kammern. Anlass zu ernsten verfassungsrechtlichen Bedenken gibt auch hier die Neuregelung des Rentenalters, da sie sich auch auf Richter*innen bezieht, die nach der alten Regelung eingestellt wurden. Hiernach wird das Rentenalter von Richter*innen am OG von 70 Jahren auf 65 Jahre für Männer und 60 Jahre für Frauen herabgesetzt, wobei Frauen über 60 Jahren nur in den Ruhestand gehen, wenn sie dies erklären. Nach Vollendung des 65. Lebensjahres treten Richter oder Richterinnen unmittelbar qua Gesetz in den Ruhestand, es sei denn, sie stellen einen Antrag auf Weiterbeschäftigung beim Präsidenten der Republik. Der Präsident kann hierzu die Meinung des LJR einholen, ist dazu aber nicht verpflichtet. Die Verlängerung erfolgt zunächst für drei Jahre und kann zweimal beantragt werden. Der Präsident entscheidet hierüber nach freiem Ermessen. Diese Regelung greift damit in die Unabsetzbarkeit der Richter*innen ein (Art. 180 Abs. 1 Verf).

Richterliche Unabhängigkeit in Gefahr

2017 waren nach Presseangaben beim OG 93 Richterstellen vorhanden, von denen 84 besetzt sind. Von den Richter*innen am OG sind mittlerweile ca. 40 Prozent älter als 65. Nach dem Gesetz gehen zudem auch die Richter*innen der aufgelösten Militärkammer in Ruhestand. Weiter müssen, um die Mindeststärke von 120 zu erreichen, 36 Richterstellen neu geschaffen werden, sodass insgesamt wenigstens 69 Stellen, d.h. über 50 Prozent der Stellen am OG neu besetzt werden könnten. Neue Richter*innen zum OG werden vom Präsidenten der Republik auf Antrag des LJR berufen. Diese massive Neubesetzung des Gerichts birgt nicht nur Gefahren für die richterliche Unabhängigkeit, sondern auch für das Funktionieren des OG. Auch die gegenwärtige Erste Präsidentin des OG hat das 65. Lebensjahr bereits erreicht und müsste einen Antrag auf Weiterbeschäftigung stellen. Auch hierin liegt ein Verstoß gegen die Verfassung, denn nach Art. 183 Verf beträgt die Amtszeit des Ersten Präsident des Obersten Gerichts sechs Jahre. Die der gegenwärtigen Ersten Präsidentin endet regulär erst 2020.

Polen hat von der Telefonjustiz des Kommunismus zur tatsächlichen Unabhängigkeit der Richter*innen, die heute selbstverständlicher Bestandteil des richterlichen Berufsethos ist, einen langen Weg zurückgelegt. Jedes der neuen Justizgesetze enthält für sich Verfassungsverstöße durch Eingriffe in die richterliche Unabhängigkeit und die Gewaltenteilung. Aus dem Zusammenspiel der Regelungen wird die Gefahr für den Rechtstaat allerdings noch größer: Indem die Wahl der Gerichtspräsident*innen bei den ordentlichen Gerichten bereits durch den Justizminister erfolgt und die Mehrheiten im LJR 2018 – und auch die Mehrheit der Richter*innen am OG – wesentlich durch den Einfluss der regierenden Partei bestimmt werden könnten, wäre einer Einflussnahme der Exekutive auf die Rechtsprechung Tür und Tor geöffnet. Im schlimmsten Fall könnte die Regierung Gerichtsurteile, die für sie ungünstig sind, verhindern. Auch der Verfassungsgerichtshof, der bereits unter dem Einfluss der regierenden Partei steht, bietet keine ausreichende Gewähr für die Einhaltung der Verfassung. Für die Bürger*innen bedeutete dies, dass ihre Rechte aus Gesetzen und Verfassung nicht mehr effektiv gerichtlich geschützt würden und damit leerliefen.


Tina de Vries ist Länderreferentin am Institut für Ostrecht München und beschäftigt sich mit polnischem Recht.