Meet the Author | Veronika Siegl

„In der Ukraine und Russland wird Leihmutterschaft als Arbeit verstanden“

10.11.2023
Vier Mütter mit Kinderwagen in einem Park. © IMAGO / Sven Simon

Transnationale kommerzielle Leihmutterschaft gilt als umstritten und ist in wenigen Ländern legal, darunter in der Ukraine und in Russland. Sozialanthropologin Veronika Siegl hat untersucht, wie Leihmütter, Wunscheltern, Kliniken und Agenturen ihr Handeln sich selbst und anderen gegenüber legitimieren.

Was hat es mit der Wahrheit, die im Titel Ihres Buchs im Zusammenhang mit der kommerziellen Leihmutterschaft steht, auf sich?

In meinem Buch argumentiere ich, dass Akteur*innen im Feld der Leihmutterschaft aufgrund der moralischen Ambivalenz dieser Praxis kontinuierlich ethische Arbeit leisten. Darunter verstehe ich verschiedene Formen rhetorischer, körperlicher und affektiver Arbeit an sich und an anderen. Ethische Arbeit wird von Individuen praktiziert, stellt aber einen systematischen Bestandteil des Leihmutterschaftsmarktes dar. Das Ziel dieser Arbeit ist oft, Wahrheiten – im Sinne von absoluten Gewissheiten – zu produzieren und zu zirkulieren. In den Erzählungen und Praktiken meiner Forschungsteilnehmenden zeigten sich jedoch oft Ambivalenzen oder Widersprüche, weshalb ich ihre Wahrheiten als brüchig bezeichne.

Um zwei Beispiele zu nennen: Eine Leihmutter in meiner Forschung war während ihrer Schwangerschaft immer betont fröhlich und sorgenfrei und schrieb mir dann zwei Jahre später, dass sie die Leihmutterschaft bereue und das Gefühl habe, eine Sünde begangen zu haben. Oder: Ein westeuropäischer Wunschvater erzählte mir im Interview, die russische Frau, die sein Kind ausgetragen hat, sei Lehrerin in einer finanziell stabilen Situation. In einem separaten Interview erzählte sie mir jedoch, dass sie schlecht bezahlt in einer Schulkantine arbeitet und sich als Alleinerziehende oft nur das Nötigste leisten könne. In solchen Situationen wurde diese Brüchigkeit deutlich. Im Buch geht es mir aber nicht darum, die Brüchigkeit per se aufzuzeigen, sondern zu fragen, was die Funktion und Logik dieser Wahrheiten ist und welche Rolle sie im Feld der Leihmutterschaft spielen.

Wer ist an der kommerziellen Leihmutterschaft in Russland und der Ukraine beteiligt, und welche Abhängigkeiten bestehen zwischen den Akteur*innen?

Die zwei Hauptakteur*innen sind natürlich die Wunscheltern und die Leihmütter. Russland hat einen sehr starken nationalen Leihmutterschaftsmarkt. In der Ukraine dagegen kommt der allergrößte Teil der Wunscheltern aus dem Ausland. Gleichzeitig waren in Russland viele der Leihmütter aus der Ukraine, Belarus und zentralasiatischen Staaten.

Welche Akteur*innen involviert sind, hängt davon ab, ob es sich um ein direktes oder ein vermitteltes Programm handelt. Bei einem vermittelten Programm stehen Agenturen quasi in der Mitte und führen Leihmütter und Wunscheltern zusammen bzw. überwachen die Schwangerschaft und kontrollieren die Beziehung der beiden Parteien. Beim direkten Programm suchen sich Wunscheltern und Leihmütter über Online-Plattformen. Manche sehen es als Vorteil, sich  aussuchen zu können, mit wem und wie sie arbeiten wollen. Anderen sagen vermittelte Programme mehr zu, weil sie eben keinen Kontakt haben müssen, weil es schneller und anonym geht, und auch weil hier Kontrolle abgegeben werden kann.

Die Agenturen betreiben eine Art Panikmache, um ihre eigene Existenz zu legitimieren. Da kursieren oft Geschichten von Wunscheltern, die übermäßig viel Kontrolle über die Leihmütter ausüben und Geschichten von Leihmüttern, die die Wunscheltern bestechen und hintergehen. Hier treten natürlich auch die großen Abhängigkeiten und die damit verbundenen Ängste der beiden Parteien zutage: Die Wunscheltern fürchten, dass die Leihmutter das Kind nicht hergeben wollen und die Leihmütter, dass sie um ihr Honorar gebracht werden. Es sind nicht zuletzt diese Szenarien, die beide Parteien zu den Agenturen bringen, weil sie vor einem unvermittelten Kontakt Angst haben. Das erhöht natürlich die Abhängigkeit von den Agenturen, die das auch zu nutzen wissen.

Wie haben Sie als Sozialanthropologin zu den Gesprächspartner*innen Kontakt und Vertrauen aufgebaut, überhaupt darüber zu sprechen, trotz dieser Umstrittenheit und starken Intimität?

Das war tatsächlich nicht einfach. Ich habe in beiden Ländern – insbesondere in Russland – ein starkes Misstrauen erlebt. Vor allem die russischen Wunschmütter hatten große Angst davor, dass ihre Geschichte an die Öffentlichkeit kommt. Eine Wunschmutter habe ich zum Beispiel per Skype interviewt, aber ohne Bild oder Namen. Eine andere hat mich immer nur mit unterdrückter Nummer angerufen. In dieser Hinsicht hatte meine Position als ausländische Forscherin vielleicht gewisse Vorteile, denn meine Forschungsteilnehmenden wussten, dass ich nicht auf Russisch oder Ukrainisch publizieren würde, was mich weniger bedrohlich machte. Aus Sicht der Kliniken und Agenturen hat mich das außerdem interessant gemacht, weil sie sich Bekanntheit im Ausland erhofften. Gleichzeitig aber waren viele skeptisch, was meine „wahren“ Interessen seien und mehrere vermuteten, ich sei Spionin. Das war also eine ambivalente Position.

Besonders schwierig war es, Kinderwunschkliniken zu finden, in denen ich Beobachtungen durchführen konnte – was für mich als Sozialanthropologin natürlich ein zentraler methodischer Aspekt von Feldforschung ist. Nur eine einzige Klinik hat mir in dieser Hinsicht die Tür geöffnet und das nur nach monatelangen Verhandlungen – und auch hier hat der Direktor zur Halbzeit meiner Forschung seine Meinung geändert und die Zusammenarbeit beendet. All das sagt viel darüber aus, wie verschlossen diese Institutionen sind. Auffallend war auch, dass die Klinik, in der ich forschen konnte, mir viele Leihmütter, aber keine Wunscheltern vermittelt hat. Die Vermittlung von Wunscheltern haben auch viele andere Kliniken und Agenturen abgelehnt – mit dem Argument, man dürfe diese nicht belasten. Da wird ein unterschiedlicher Schutzanspruch deutlich.

Warum sind gerade Russland und die Ukraine im Kontext der Leihmutterschaft interessant?

In der Ukraine und Russland wird Leihmutterschaft als Arbeit verstanden, was die beiden Länder signifikant von anderen regionalen Kontexten wie den USA, Indien oder Israel unterscheidet, wo Leihmutterschaft oft mit einem gewissen Altruismus oder einer Opferbereitschaft verbunden wird, während die ökonomischen Aspekte verdeckt oder umgedeutet werden. Für diese Unterschiede gibt es natürlich keine klaren Kausalitäten, aber der Zusammenbruch der Sowjetunion, der Übergang zur kapitalistischen Marktwirtschaft mit dem Anstieg sozialer und ökonomischer Ungleichheiten sowie die Dominanz einer neoliberalen Ideologie von Selbstverantwortung und Individualismus und einem zutiefst vergeschlechtlichten und diskriminierenden Arbeitsmarkt sind sicher ein Nährboden für einen konsumorientierten und instrumentellen Zugang zu Leihmutterschaft. Die Verknüpfung zwischen dem Ökonomischem und Intimem ist dadurch weniger tabuisiert. In Russland spielt zusätzlich der extrem aggressive und konservative biopolitische Kontext eine große Rolle. Hier muss Leihmutterschaft so praktiziert werden, dass die heterosexuelle Kleinfamilie reproduziert wird, das heißt die beiden Parteien kennen sich oft kaum oder gar nicht und die Leihmutterschaft bleibt geheim und findet nicht Eingang in die Biografien der neu gegründeten Familien. Der Buchtitel „Intimate Strangers“ soll dieses Verhältnis zum Ausdruck bringen.

© Cornell University Press

Ihre Forschung für das Buch war vor 2022 abgeschlossen, erschienen ist es im Juli 2023. Ist erkennbar, wie Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine die kommerzielle Leihmutterschaft in beiden Ländern beeinflusst?

Das Buch war im Oktober 2021 quasi fertig. Auf den russischen Angriffskrieg gehe ich im Rahmen eines Nachworts ein, allerdings nur basierend auf einer Online-Recherche. In einigen Medien wurde berichtet, dass viele schwangere Leihmütter, die das Land verlassen haben, nach Georgien geflüchtet sind. Dort ist Leihmutterschaft auch legal und reguliert, das heißt sie – und die Wunscheltern – hatten die Sicherheit, dass sie nach der Geburt nicht die rechtlichen Mütter dieser Kinder gewesen wären. Das wäre ja der Fall, wenn sie beispielsweise nach Deutschland geflohen wären. In Bezug auf Leihmutterschaft haben viele, inklusive mir, erwartet, dass der Angriffskrieg zu einem Stillstand des ukrainischen Marktes und zu einem signifikanten Wachstum des georgischen Marktes führen wird. Ein Blick in die sozialen Medien und auf die Websites von Agenturen zeigt aber, dass in der Ukraine weiterhin eifrig Leihmütter und Wunscheltern akquiriert werden – und zwar mit Erfolg, wie ein kürzlich erschienener Guardian-Artikel aufgezeigt hat. Die globale Nachfrage ist groß und es gibt nicht mehr viele Länder, in denen Leihmutterschaft auf kommerzieller Basis und für Ausländer*innen möglich ist. In dieser Hinsicht gab es in Russland eine wichtige Gesetzesänderung: Seit Anfang 2023 dürfen nur noch heterosexuell verheiratete Paare, von denen eine Person die russische Staatsbürgerschaft besitzt, und alleinstehende russische Frauen eine Leihmutterschaft in Anspruch nehmen. Somit bricht Russland als internationale Destination weg. Auch das könnte dem ukrainischen Leihmutterschaftsmarkt zugutekommen.

Das Gespräch führte Hannah Guhlmann, Volontärin in der Wissenschaftskommunikation am ZOiS.


Veronika Siegl ist Sozialanthropologin und Geschlechterforscherin. Als PostDoc an der Universität Bern beschäftigt sie sich mit Ethik, Ungleichheit und Selbstbestimmung im Kontext von Reproduktionsmedizin.

Siegl, Veronika. Intimate Strangers: Commercial Surrogacy in Russia and Ukraine and the Making of Truth. Ithaca, London: Cornell University Press, 2023.